Mitternachtsschatten
nicht einfach zuschütten und einen neuen Pool bauen lässt. Dieser jedenfalls ist absolut eklig.“
„Ach so, und du glaubst, mich überreden zu können, darin zu schwimmen?“ fragte Jilly.
„Es sei denn, du hast zu viel Schiss“, zog Rachel-Ann sie auf. Damals war sie noch stark gewesen, kampflustig. Nicht diese verletzliche, verwundete Kreatur, die sie heute war. „Weißt du, in dem Pool sind die Geister bisher noch nicht gesehen worden. Eigentlich nur im Haus, niemals auf dem Grundstück.“
„Hier gibt es keine Geister“, sagte Jilly bestimmt.
„Nur weil du noch keine gesehen hast, heißt das noch lange nicht, dass sie auch nicht existieren. Hast du noch nie diesen Tabak gerochen? Oder das Parfüm?“
„An deiner Stelle würde ich mich nicht so sehr über merkwürdig riechenden Rauch auslassen.“ Selbst mit fünfzehn war Jilly schon ziemlich direkt. „Und jeder in diesem Haus trägt Parfüm. Selbst Consuelo.“
„Du wirst schon noch lernen, Parfümdüfte zu unterscheiden, wenn du älter bist. Hier handelt es sich um französisches Parfüm, ein sehr seltener und kostbarer Duft, und das hat überhaupt nichts mit dem zu tun, was Dienstboten tragen.“
„Ich dachte, du magst Consuelo“, protestierte Jilly. In den letzten Jahren war Consuelo so etwas wie eine Mutter für sie geworden, und sie war ihr absolut ergeben.
„Ich mag sie ja auch. Aber deshalb muss ich doch ihren Geschmack nicht teilen.“ Rachel-Ann trat ein Stück zurück und bewunderte ihr Spiegelbild. Sie hatte ihr rotgoldenes Haar dunkel gefärbt und trug sogar braune Kontaktlinsen. Damals hatte sie viel weiblichere Formen, und das dünne Spitzenkleid schmiegte sich an ihren Körper wie eine zweite Haut. „Wie sehe ich aus?“
„Großartig. Weiß Consuelo es eigentlich?“
„Was soll sie wissen?“
„Dass du mit ihrem geliebten Sohn Enrique schläfst?“
„Richard“, korrigierte Rachel-Ann scharf. „Er will, dass man ihn Richard nennt. Und Consuelos Pläne stimmen nicht unbedingt mit seinen überein. Sie glaubt immer noch an den amerikanischen Traum und hofft, dass ihr Sohn ein Arzt wird. Richard will das aber nicht.“
„Was will er denn?“
„Mich“, sagte Rachel-Ann ruhig. „Was ist jetzt, gehst du schwimmen?“
„Warum ist dir das so wichtig?“
„Wir werden im Badehäuschen sein und wollen nicht gestört werden. Du solltest also wegbleiben, wenn du nicht willst, dass deine wertvolle Unschuld besudelt wird.“
„Rachel-Ann, bist du sicher, dass du weißt, was du tust?“
„Fang jetzt nicht wieder damit an, Jilly. Ich bin inzwischen ein großes Mädchen. Ich kann auf mich selbst aufpassen.“
Aber genau das konnte sie nicht, dachte Jilly. Nicht damals und nicht heute, und kein Mensch auf der Welt schien in der Lage zu sein, ihr zu helfen.
Jilly wollte nicht wirklich schwimmen gehen. Sie wusste, dass ihre Schwester mit Consuelos Sohn schlafen würde, und sie wollte die beiden auf keinen Fall überraschen oder auch nur in ihrer Nähe sein. Doch die Nacht war stickig, schwül und qualvoll heiß. Kein Lufthauch kam durch die geöffneten Fenster.
Jilly lag in ihren kurzen Shorts auf dem Bett, ihr Körper mit einer Schicht Schweiß überzogen. Sie duschte kalt, sie setzte sich vor einen Ventilator, sie legte sich nasse Waschlappen und Eiswürfel auf den Körper. Nichts half. Als sie dann Rachel-Ann in ihr Zimmer zurückschleichen hörte, konnte sie es nicht mehr länger ertragen.
Das Wasser war bestimmt klar, sauber und herrlich erfrischend. Sie wollte nur so lange schwimmen, bis sie sich ein wenig abgekühlt hatte und so müde war, dass sie endlich einschlafen konnte. Damals wurden die Tore nachts geschlossen, und Consuelos Mann und ihr Sohn kümmerten sich sehr sorgsam um die Sicherheit des Hauses. Zwar war Enrique – Richard – bestimmt sehr erschöpft nach seinem Stelldichein mit Rachel-Ann, aber Jaime, sein Vater, war ein verantwortungsvoller Mann. Also konnte sie sicher sein, dass sich kein Eindringling unter einem Busch versteckt hatte, um sie zu entführen. Das war La Casa de las Sombras, der Ort, den sie liebte! Hier war sie sicher!
Zumindest so lange, bis sie die Rosenhecke hinter sich gelassen und an dem Weg, der zum Pool führte, angekommen war. Es war Neumond, und die schmale Sichel versteckte sich genau in diesem Augenblick hinter einer dicken Wolke. Sie konnte den Weg kaum noch erkennen. Jetzt wirkte das Wasser dick und schwarz, auch wenn die Vernunft ihr sagte, dass es nicht so war. Sie
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