Mitternachtsschatten
konnte die Chemikalien, die am Nachmittag ins Wasser geschüttet worden waren, nicht riechen. Es stank nicht nach Chlor, aber nach verrottenden Pflanzen.
Als sie den Beckenrand erreichte, hielt sie, plötzlich sehr nervös geworden, einen Moment inne. Selbst aus der Nähe sah das Wasser dunkel, bedrohend und undurchdringlich aus. Die Luft um sie herum war wie ein Kokon aus feuchter Hitze, und wenn sie sich jetzt nicht traute, dann würde sie nur mehr schwitzen und sich noch elender fühlen. Sie trat einen Schritt vor, war bereit, samt ihrem Baumwollnachthemd in das Wasser einzutauchen, als der Mond wieder hinter der Wolke auftauchte.
Plötzlich sah alles anders aus, sie war in eine andere Zeit geschleudert worden, in eine Nacht, lange, bevor sie geboren war. Und genau in dem Augenblick, in dem sie sprang, sah sie im Wasser unter sich ein Gesicht auftauchen, ein Gesicht, das sie aus ihren Träumen kannte. Ein Gesicht, das aussah wie das ihrer Schwester.
Jilly schrie, aber es war zu spät. Sie drehte sich in der Luft und traf mit einem Bauchklatscher auf dem Wasser auf, das warm, dick und übelriechend war. Sie tauchte unter, schluckte etwas von dem Wasser, kam wieder an die Oberfläche und schwamm so schnell wie möglich und mit all ihrer Kraft zum Beckenrand zurück. Es fühlte sich an, als ob der Pool voller Algen war, die sich um ihre Handgelenke und Fußknöchel schlangen, sich in ihrem Haar verfingen und versuchten, sie zu der Frau, die unter ihr im Wasser lag, herunterzuziehen. Die Frau, die Rachel-Ann war, und es doch nicht war. Mit einer letzten Kraftanstrengung erreichte sie das Ende des Pools und kletterte aus dem Becken.
Sie traute sich nicht, zurückzublicken. Schreiend rannte sie los, hinauf zum Haus. Sie scherte sich nicht darum, dass sie alle Bewohner aus dem Schlaf riss. Ihre Schwester lag tot im Pool, jemand hatte versucht, sie zu töten, und ein Fremder war im Haus! Grelles Licht überflutete die große Steinterrasse.
Als Jilly zum Haus stolperte, stand Grandmère bereits in der Eingangstür, neben ihr eine zerknitterte Consuelo und ihr Mann. Jaime trug ein Gewehr, und einen kurzen, hysterischen Augenblick lang sah er mit seinem borstigen Schnurrbart und in seinem Pyjama aus wie ein verrückter Verbrecher.
„Rachel-Ann“, schluchzte sie und stolperte ins Haus. „Sie ist im Pool. Sie ist tot …“
„Ich habe keine Ahnung, was du geraucht hast, Jilly, aber ich bin hier.“ Rachel-Ann tauchte hinter Grandmère auf. „Und du siehst aus wie eine ertrunkene Ratte.“
Mit einem erleichterten Schrei warf Jilly die Arme um ihre Schwester, die laut kreischte und sie wegstieß.
„Du lebst!“ heulte Jilly.
„Und du bis kalt und nass!“ sagte Rachel-Ann.
„Du hast jemanden in unserem Pool gesehen, Jilly?“ fragte ihre Großmutter. „Jaime, gehen Sie doch mal hinunter und schauen Sie nach. Ich kann mir zwar nicht vorstellen, wie jemand auf unser Grundstück gelangt sein soll – Sie haben doch die Tore wie immer abgeschlossen, nicht wahr? Aber es sind schon merkwürdigere Dinge passiert. Ich hoffe nur, dass in unserem Schwimmbad keine Leiche treibt. In diesem Haus ist schon genug Unglück geschehen.“
Der nüchterne Ton ihrer Großmutter hatte wie immer einen beruhigenden Einfluss auf Jilly, die aber noch immer zitterte, entweder wegen des nassen Nachthemds oder der Erinnerung an das Gesicht.
„Sie treibt nicht. Sie liegt am Grund des Pools, gefangen in den Algen.“
„Im Schwimmbad sind keine Algen, Jilly“, sagte Grandmère geduldig. „Und auch keine Leiche, vermute ich. Das ist einfach nicht möglich. Du hast dir das eingebildet. Ich möchte, dass du jetzt in dein Zimmer gehst, aus diesen nassen Kleidern steigst und heiß duschst. Ich bringe dir dann eine Schlaftablette, damit du dich beruhigst.“
„Ich brauche keine Schlaftablette.“
„Entweder das oder einen Schluck Brandy. Ich habe keine Lust, noch einmal aus dem Schlaf gerissen zu werden, nur weil meine Enkelin mal wieder einen entsetzlichen Albtraum hat.“
„Das war kein Albtraum“, flüsterte Jilly. Doch schon jetzt traute sie ihrer eigenen Erinnerung nicht mehr. Es hatte sich zwar Furcht erregend, aber tatsächlich nicht real angefühlt. Und trotzdem: Sie war doch im Pool gewesen! Ihr Nachthemd war noch nass!
„Bring sie nach oben, Rachel-Ann, während ich mit Jaime beim Schwimmbecken nachsehe.“
Rachel-Ann sagte kein Wort, als sie den Arm ihrer Schwester umfasste und sie über die gewundene Marmortreppe nach
Weitere Kostenlose Bücher