Mitternachtsschatten
oben zerrte. Erst als sie Jilly ins Badezimmer gestoßen hatte, begann sie zu sprechen. „Wenn du Grandmère auch nur ein einziges Wort über mich und Richard verrätst, dann werde ich dir das niemals verzeihen. Erstens würde sie sofort Consuelo hinauswerfen, und danach vermutlich mich. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass du lieber bei deinem Vater wohnen würdest.“
„Ich glaube kaum, dass er uns überhaupt nehmen würde“, antwortete Jilly mit klappernden Zähnen.
Rachel-Ann sah sie seltsam an. „Keine Ahnung, ob er dich zurückhaben will“, murmelte sie gewohnt unverblümt. „Egal, auf jeden Fall weiß ich, dass du heute Nacht der einzige Mensch im Pool warst. Glaubst du nicht, dass es uns aufgefallen wäre, wenn etwas nicht gestimmt hätte? Und wenn dich jemand fragt: Du warst die Einzige, die heute Nacht das Haus verlassen hat. Hast du kapiert?“
Jilly nickte fröstelnd.
Es gab keine Leiche im Pool.
Jilly ging selbst am nächsten Morgen in der glühenden Hitze noch mal dort hin. Wenn sie nicht freiwillig ginge, das wusste sie, würde ihre Großmutter sie hinschleppen. Das Wasser war klar, es roch streng nach Chlor, keine Algen, keine ertrunkene Frau. Wenn jemals ein Mensch in diesem Pool ertrunken war, dann in einem anderen Leben, in einer anderen Realität.
Seit dieser Nacht ging Jilly niemals mehr in die Nähe des Pools. Doch sie erlebte es immer wieder. In ihren Träumen sah sie das tote Gesicht ihrer Schwester, die Augen starrten sie an, ihr Mund war in einem tonlosen Hilfeschrei geöffnet. Schleimige Äste griffen aus der Tiefe nach ihrem Körper, um sie noch weiter nach unten zu ziehen.
Auch eben hatte sie wieder davon geträumt, war kreischend aufgewacht, erstickte ihre Stimme im Kopfkissen und lag dann hellwach in ihrem dunklen Zimmer.
Roofus wälzte sich auf dem Boden, wimmerte aus Sympathie ein wenig mit. Sie streckte automatisch ihre Hand aus, um die Stelle hinter seinen Ohren zu streicheln. Coltrane hatte auch gewusst, wo er ihn am besten streicheln musste. Zwar war sie immer der Überzeugung gewesen, dass man einem Mann, der Hunde mochte, vertrauen konnte, doch offenbar hatte sie sich geirrt.
Alan hatte Barkus, ihren früheren Hund, gehasst. Als Barkus eines Tages vergiftet wurde, hatte Jillys Mann all die richtigen Worte gesagt, aber sie konnte nicht übersehen, wie erleichtert er war. Als sie das begriffen hatte, wusste sie, dass sie nicht länger mit ihm zusammenleben konnte. Roofus mochte Coltrane. Vielleicht hatte er einfach keinen Geschmack, oder Coltrane war doch nicht so schlimm, wie sie dachte.
Er wohnte nun seit zwei Tagen in der Casa de las Sombras. Seit zwei Nächten schlief er bereits am Ende der Halle, nicht weit von ihrem Zimmer entfernt. Heute hatte er sich ein Bett liefern lassen, und eigentlich wollte sie ihn darauf ansprechen und fragen, mit welchem Recht er anfing, Möbel für das Haus zu kaufen. Aber dann war er erst sehr spät am Abend zurückgekehrt, und sie lag schon im Bett, gleichermaßen verärgert und enttäuscht darüber, dass ihr eine Konfrontation mit ihm erspart blieb.
Jilly kletterte aus dem Bett und schlang ihr verschwitztes Haar zu einem Knoten. Den Rest der Nacht werde ich wohl kein Auge mehr zutun können, dachte sie verärgert. Es war 2 Uhr 33, und sie wusste aus Erfahrung, dass sie keine Ruhe mehr finden würde. Sie stieß die Balkontür auf, trat in die kühle Nachtluft und ließ ihren Blick über das weite Anwesen wandern.
Der Pool lag versteckt hinter den wuchernden Rosenbüschen. Ich sollte mich wirklich endlich darum kümmern, dachte sie wieder. Solange das Schwimmbecken dort hinten existierte – inzwischen glich es eher einer Algenfarm – solange hatte es die Macht, in ihre Träume einzudringen. Wenn sie es aber zuschütten ließe, würden auch die Albträume verschwinden.
Sie schüttelte ihr Haar wieder frei und ließ es wie einen Vorhang auf den Rücken fallen. Eigentlich würde sie es ja gerne abschneiden lassen, aber ihr Vater hasste es nun einmal aus irgendeinem Grund. Er sagte immer, sie sähe aus wie ein Hippiemädchen aus den sechziger Jahren. Woraufhin Jilly freundlich lächelte und es noch länger wachsen ließ. Und das, obwohl sie sich selbst immer wieder einredete, dass die Zustimmung oder Ablehnung ihres Vaters sie nicht im Geringsten kümmerte!
Sie lehnte sich gegen das Geländer und starrte vor sich hin. Die Fliesen fühlten sich kühl unter ihren bloßen Füßen an. Der Balkon zog sich über die ganze Breite
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