Mitternachtsschatten
geringste Verlangen nach deren starken Körpern, hübschen Gesichtern und angenehmen Charakteren.
Sie hatte also doch mehr mit ihrer Schwester gemeinsam, als sie jemals geahnt hatte. Einschließlich der Hingabe zu den falschen Männern. Jilly setzte sich auf und strampelte die Bettdecke von sich. Es war vier Uhr morgens, eine typische Uhrzeit für ihre Schlafstörungen. Vielleicht sollte sie sich den Gewohnheiten ihrer Schwester noch weiter anschließen und es einmal mit Alkohol probieren. Das würde ihr helfen, einzuschlafen. Ein schöner Cognac, der im Hals brannte und den Bauch wärmte und sie selig schlummern ließ. Und selbst wenn sie verschlafen würde, wäre das kein Problem, sie hatte für den nächsten Tag keine Termine im Kalender. Im Grunde wäre es sogar egal, wenn sie niemals mehr bei der Arbeit auftauchen würde. Die Rettung von historischen Gebäuden in Los Angeles war nur ein großer Witz. Sie war ja nicht einmal in der Lage, ihr eigenes Haus davor zu bewahren, einfach zusammenzufallen. Das Gehalt, das sie bezog, war erbärmlich, bestimmt war es leicht, etwas anderes zu finden, das zumindest so viel einbrachte, um das La Casa in Schuss zu halten.
Roofus schnarchte laut auf dem Teppich neben ihrem Bett. Sie stieg über ihn und ging auf Zehenspitzen aus dem Zimmer. Sie wollte nicht, dass er aufwachte, denn dann wäre er sofort wieder voller Energie, aufgeregt und glücklich und würde sie nicht mehr einschlafen lassen. Sie wollte nur schnell die Treppe runterschleichen, sich in der Küche einen Cognac einschenken und gleich wieder nach oben gehen.
Von den Cognacschwenkern war natürlich keiner mehr übrig. Also schüttete sie eine anständige Menge Cognac in ein kleines Wasserglas, lehnte sich gegen das Spülbecken und trank einen tiefen Schluck. Sie genoss das Kitzeln und Brennen in ihrem Hals. Sie konnte es sich ruhig eingestehen: Rachel-Ann und Coltrane verbrachten die Nacht zusammen. Irgendetwas war zwischen den beiden entstanden, etwas sehr Mächtiges, das hätte selbst der blindeste Mensch sofort bemerkt. Jilly machte sich nichts vor. Coltrane wollte etwas von ihrer Familie, und er hatte bestimmt keine Skrupel, genau das zu bekommen, egal wie. Wahrscheinlich würde er auch mit ihnen beiden schlafen, wenn ihm das weiterhalf. Wenn sie nur wüsste, was er vorhatte, was er von ihnen wollte!
Sie trank das Glas leer und füllte es erneut. Für sie, die Alkohol nicht gewöhnt war, war das eindeutig zu viel, aber wen interessierte das schon? Niemand war hier, sie konnte später einfach in ihr Bett krabbeln und so lange wie nur irgendwie möglich schlafen. Das war das Mindeste, das sie verdiente!
Es hat sich wirklich sehr gut angefühlt, dachte sie, als sie die Lichter löschte und noch einen Moment in der stockdunklen Küche verharrte. Dieser Kuss hatte sie viel mehr durcheinandergebracht, als sie sich selbst eingestehen wollte. So durcheinander, dass sie sich sogar vorstellte, Coltrane noch einmal zu küssen. Alle Vorbehalte über Bord zu werfen und einfach …
Was? Mit ihm schlafen? So verrückt konnte sie doch nicht sein. Davon abgesehen, dass das ganz und gar unmöglich war. Schließlich vergnügte er sich gerade mit Rachel-Ann, und sie hatte keine Lust, sich das zu nehmen, was Rachel-Ann übrig ließ.
Der Cognac beruhigte langsam ihre Nerven. Endlich fühlte sie sich etwas lockerer, die schmerzhafte Anspannung war aus ihrem Körper verschwunden. Wen, verflucht nochmal, interessierte es überhaupt, mit wem Rachel-Ann es trieb? Der letzte Mann, den sie angeschleppt hatte, war ein gewalttätiger Drogenhändler gewesen, im Vergleich dazu erschien sogar Coltrane als Fortschritt.
Zwar hatte sie versucht, Coltrane davon abzubringen, sich an ihre Schwester ranzumachen, doch das war offenbar reine Zeitverschwendung gewesen. Dann eben nicht. Sie ging das ja nichts an. Er war ihr egal. Sie waren ihr egal. Vielleicht würden sie glücklich bis an ihr Lebensende zusammensein, und sie konnte aufhören, sich Sorgen zu machen.
Und Schweine können fliegen.
Plötzlich sah sie einen Lichtschimmer aus dem Wohnzimmer. Erschrocken hielt Jilly am Fußende der Treppe inne. Dieses Zimmer wurde eigentlich kaum benutzt. Wenn sie alle drei zusammenwaren, dann meistens im Tropicana-Zimmer, ganz im Art-déco-Stil eingerichtet und mit einer großen, geschwungenen Bar in der Mitte, einem flauschigen Teppich und einem riesigen Fernseher, ein Geschenk Jacksons, als er sich einmal in Spendierlaune befunden hatte. Im
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