Mitternachtsschatten
wollen, aber dann geriet alles außer Kontrolle. Er konnte nicht mehr aufhören. Wollte nicht mehr aufhören.
Coltrane grinste schief. Er musste lernen, Jilly Meyer nicht zu unterschätzen. Oder, um genauer sein, den Effekt, den sie auf ihn hatte. Er saß in der düsteren Küche und trank seine zweite Tasse Kaffee, als Rachel-Ann hereinkam. Sie sah viel besser und lebendiger aus als das letzte Mal. Sie stoppte im Türrahmen, als sie ihn erblickte. Wenn sie gewusst hätte, dass er in der Küche war, hätte sie sicher eine andere Richtung eingeschlagen.
„Es ist noch Kaffee da“, sagte er.
„Ich habe bereits zwei Tassen getrunken.“ Sie blieb wie angewurzelt in der Tür stehen.
„Dann trinken Sie doch noch eine.“
„Das macht mich zu nervös.“
Da hatte sie Recht. Sie war schon jetzt das reinste Nervenbündel. „Setzen Sie sich doch“, forderte er sie auf.
Es war das erste Mal, dass er mit ihr alleine war. Er fühlte sich nicht sonderlich wohl dabei.
„Nervosität hat auch ihre Vorteile“, sagte sie, kam in die Küche und schenkte sich einen Becher ein. Sie ließ sich ihm gegenüber nieder, und er beobachtete fasziniert, wie sie riesige Mengen Zucker in den Kaffee schüttete. „Außerdem wollte ich sowieso mit Ihnen sprechen.“
„Okay.“ Er lehnte sich zurück und wartete.
„Was haben Sie mit meiner Schwester angestellt?“
Mit dieser Frage hatte er nicht gerechnet. „Wie meinen Sie das?“
„Sie fuhr davon, als ich heute Morgen nach Hause kam, und sie hat mich nicht einmal gesehen. Roofus war bei ihr, und sie weinte.“
„Wann war das? Ich dachte, sie schläft noch.“
„Vor etwa fünf Minuten. Was haben Sie mit ihr gemacht?“
„Überhaupt nichts“, sagte er und sah sie an, ohne zu blinzeln. Er würde doch seiner kleinen Schwester nicht erzählen, was auf dem Sofa im Wohnzimmer geschehen war! „Davon abgesehen: Glauben Sie wirklich, dass Jilly jemanden braucht, der auf sie aufpasst? Sie ist erwachsen, sie kann tun und lassen, was sie will.“
„Sie ist nicht so unverwundbar, wie sie selbst gerne glauben möchte. Sie ist stark, aber auch verletzlich. Das liegt wahrscheinlich daran, dass sie viel zu sehr an ihrer Familie hängt.“
„Daran hätten Sie denken sollen, bevor Sie mit Ihrem Mann ins Bett gestiegen sind“, sagte er gedehnt. Erst als er es schon ausgesprochen hatte, dachte er darüber nach, dass das sicher nicht der beste Weg war, um sich bei seiner Schwester einzuschmeicheln. Ihre grünen Augen wurden dunkel vor Wut. „Ich hatte vergessen, dass sie in all die Eskapaden unserer Familie eingeweiht sind.“
„So nennen Sie das also? Eine Eskapade?“
„Ich habe Jilly alles erzählt. Sie hat mir verziehen.“
„Natürlich hat sie das. Sie haben doch gerade selbst ihr Problem angesprochen. Sie hängt an Ihnen allen viel zu sehr. Es ist ihr sogar egal, dass Sie sie auf die übelste Weise betrogen haben, sie liebt Sie noch immer und will Sie beschützen. Auch wenn Sie mal wieder vorhaben, sich umzubringen, und es verdammt nochmal nichts gibt, was sie tun könnte, um Sie zu retten.“ Er war selbst überrascht darüber, wie bitter seine Stimme klang. Er nahm den Kaffeebecher in die Hand und wartete auf ihren unabwendbaren Ausbruch.
Doch sie explodierte nicht. Ihre Wut war einfach verraucht, sie starrte ihn nur verwundert an. „Interessant“, murmelte sie. „Wer hätte das gedacht?“
„Wer hätte was gedacht?“ Er war von Minute zu Minute irritierter. Jilly irritierte ihn mit ihrem blutenden Herzen und ihrer Verletzlichkeit. Rachel-Ann irritierte ihn mit ihrem Todeswunsch. Und am allermeisten irritierte er sich selbst, weil es ihm nicht egal war, was aus den beiden wurde.
„Sie mögen Jilly“, stellte Rachel-Ann fest. „Das sollten Sie Jackson auf keinen Fall wissen lassen. Es würde ihm überhaupt nicht gefallen, wenn sein wichtigster Handlanger sich in Jilly verliebt. Er hält seine Kinder für absolut überflüssig.“
„Ich bin sein Anwalt, nicht sein Handlanger.“
„Das kommt aufs selbe hinaus“, unterbrach sie ihn unbekümmert.
„Und Jilly interessiert mich genauso wenig wie ihr verdammter Hund. Ich kann es nur nicht leiden, wenn jemand genau den Menschen betrügt, den er angeblich liebt. Und was das andere betrifft, ich kenne Ihren Vater nun lange genug, um zu wissen, dass er Sie nicht für überflüssig hält.“
Ein seltsamer Ausdruck huschte über ihr Gesicht. „Nein, das stimmt“, sagte sie mit tonloser Stimme. „Aber ich schätze,
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