Mittland 2 - Das Feuer der Drachen: 1.100 Seiten Fantasy (German Edition)
flüchtete.
Wenn ich mich töte, töte ich auch den Keiler, dachte sie unbarmherzig. Dieses Scheißvieh scheint nicht ansatzweise so viel Schmerzen zu haben wie ich. Noch nicht, aber auch der Keiler blutet , und Haut hängt ihm in Fetzen von der Seite und vom Rücken. Wie lange hält er es noch aus? Wer ist stärker? Er oder ich?
Sie musste bewusstlos geworden sein, für eine kleine Weile zumindest, denn als sie die Augen aufschlug, war der Keiler verschwunden.
Nashka atmete auf.
Sie hatte gewonnen.
Doch nun musste sie zurück. Zurück aus dem selbstgewählten Gefängnis, und so sehr sie sich auch bemühen würde, um die Äste und Dornen von sich fernzuhalten, sie würde erneut leiden.
Im selben Moment raste der Keiler auf sie zu. Er grollte und schnaufte , und sein schwerer Körper donnerte in die Dornen, schleuderte Äste und alles zur Seite, was zwischen ihm und Nashka war.
Die junge Frau schloss die Augen. Es war zu Ende.
Sie hatte getan, was möglich war.
Und sie hatte versagt.
Nein! NEIN! Jede Faser ihres Überlebenswillens brannte und begehrte gegen das Unvermeidliche auf. Sie war die Tochter von Ibroc Crossol, dem Herrscher der dunklen Burg, dem Erzherzog der Nordlande. Wer hier lebte, am Ende der Welt, inmitten Stein, Kälte, Regen und Schnee, verfügte über die Kraft der Gezeiten und der Witterung, war von Wind und Wetter geschliffen wie ein Stein und hart wie Eis. Sie hatte noch ein langes Leben vor sich und würde es ihrer Dummheit nicht opfern. Sie war unvernünftig gewesen und alleine geritten, doch wenn sie diesen Keiler erlegte und blutüberströmt, kaum fähig zu laufen, zur Burg zurückkehrte, würde Vater sie schneller an die Macht bringen, als geplant war. Denn man würde Lieder über sie singen. Über ihren Mut und ihren Willen. Man würde sie achten und ehren, denn sie war kalt wie Granit und heiß wie der fünftägige Sommerwind.
Der Keiler schob sich durch die Dornen und Äste, die ihm in die Fratze schlugen, wobei zwei Dornen direkt in sein linkes Auge stießen. Der Keiler schüttelte wild den Schädel, sein Auge schälte sich aus der Höhle und blieb an dem Dorn hängen. Es sah aus, als wolle sich das Tier auf die Hinterbeine stellen, vielleicht war es doch der Schmerz, den es nicht mehr beherrschen konnte, m öglicherweise siegte Leid über Mordl ust. Jedenfalls bebte der schwarze Körper , und das Quieken des Tieres wurde schriller. Blut pulste aus der leeren Augenhöhle , und der Keiler hielt einen Moment inne und leckte es ab.
»Komm, komm, wenn du dich traust«, zischte Nashka. »Du wirst zuerst sterben!«
Als habe der Keiler ihre Worte verstanden, schüttelte er seinen Schädel , und eines seiner Ohren blieb an einem Dorn hängen. Dies schien den Zorn des Tieres nur zu vergrößern, denn mit einem Brüllen, welches direkt aus den Tiefen von Unterwelt zu dringen schien, riss er sich los und strebte vorwärts.
Seine Schnauze war nur noch zwei Handbreit von Nashkas Gesicht entfernt. Der Keiler schien sich nicht mehr um ihre Beine und ihren Leib zu kümmern. Im Gegenteil wirkte es, als wolle er in ihre Augen blicken. Als wolle er ergründen, was Mut war.
Sie starrten sich an.
Zwei Mutige!
Zwei Tapfere!
Und das Maul des Keilers klappte auf und zu. Nashka schob ihren Kopf weiter zurück, und als einer oder zwei Dornen in ihren Nacken drangen, tiefer und tiefer, wusste sie, dass sie die Brücke überschritten hatte. Noch einen Schritt und sie würde die Brücke verlassen, um in die Götterwelt zu gehen. Die Dornen würden in ihr Rückenmark dringen. Das wäre der sichere Tod.
Der Keiler warf den Schädel zurück und quiekte wie eine junge Sau, die man zum Schlachthof schleift. Seine Vorderläufe gaben nach , und er fiel auf den Bauch. Er kreischte immer erbärmlicher und Nashka hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten, wie sie es als Kind getan hatte, weil sie das Leid der Schweine nicht ertragen konnte, die ihre Leidensgenossen sterben sahen und vor Angst schier verrückt wurden.
Was geschah mit dem Keiler? Sie traute ihren Augen nicht. Das Tier rutschte auf dem Bauch rückwärts, wurde nach hinten gezogen wie eine Schubkarre oder ein altes Tierfell. Dornen verhakten sich in seinem Fleisch, brachen und der Keiler verschwand aus dem Gebüsch. Ein hartes Knacken ertönte, als würden Steine gegeneinander schlagen. Ein markerschütternder Schrei – dann war alles still.
Nashka schloss die Augen.
Träumte sie?
War sie tot?
Hatte sie die Brücke überschritten und
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