Mittsommersehnsucht
zu, wie die Midnatsol fast mitten im Stadtzentrum von Molde anlegte. Zur dunkelblauen Leinenhose trug sie ein weiß-blau gestreiftes Top, darüber eine weiße Leinenjacke. Es waren nur wenige Dinge, die sie sich noch kurz vor dem Auslaufen des Schiffes im Hafen gekauft hatte. Mit dem wenigen, das sie als Handgepäck bei ihrer Ankunft in Bergen dabeigehabt hatte, kam sie nicht zurecht auf See.
Sie hatte ihre blonden Haare im Nacken locker zusammengebunden. Sehr jung sah sie aus. Jung und attraktiv, wie mancher Männerblick bewies.
Doch Andrea reagierte nicht darauf. Sie sah hinüber zu der Stadt, die laut Reiseführer auch »Rosenstadt« genannt wurde. Das Klima war hier, dank des Golfstroms, so mild, dass noch Rosenstöcke gediehen, was normalerweise in diesen nördlichen Breiten nicht mehr vorkam.
Andrea wollte sich die Stadt, die einen ganz besonderen Zauber besitzen sollte, anschauen. Mit vielen anderen verließ sie das Schiff, ging zunächst zum Dom, der zentral lag. Als sie an einem kleinen Park vorbeikam, in dessen Mitte ein Rosenrondell angelegt worden war, blieb sie kurz stehen. Ein hellrotes Blütenmeer zog den Blick auf sich. Sie glaubte den Rosenduft wahrzunehmen, der den Geruch nach Meer, Salz und Fisch übertünchte.
»Vorsichtig, Kim!«
Andrea drehte sich um und sah die kleine Kim, die sie vom Schiff her kannte, übermütig über den kiesbedeckten Weg laufen. Heute trug sie keine Tracht, sondern eine hellblaue Jeanshose, dazu einen gelben Pulli, auf dessen Vorderseite der Kopf eines Huskys eingestickt war. Zu dem modischen Outfit passte allerdings die rote Kappe nicht, die jetzt plötzlich …
Andrea hielt den Atem an, als eine Windböe Kim die Kappe vom Kopf riss und man den kahlen Schädel der Kleinen sah.
»Ole!« Panik schwang in der Kinderstimme mit. Ein Wortschwall, den Andrea nicht verstand, folgte. Sie rannte los, und es gelang ihr, die Kappe zu fassen zu kriegen, ehe sie ins Rosenbeet geweht wurde.
Der alte Ole hielt Kim im Arm und sprach tröstend auf sie ein. Andrea verstand nicht alles, doch sie hörte heraus, dass der alte Mann dem Kind versicherte, dass alles in Ordnung sei und Kim keine Angst haben müsse.
Als Andrea ihm die Mütze reichte, sah er kurz auf. »Danke. Kim schämt sich so, wenn man sieht, dass sie alle Haare verloren hat. Aber ihre Perücke ist nass geworden, deshalb konnte sie sie heute nicht aufsetzen.«
Andrea legte die Hand auf Kims Schulter. »Du musst nicht traurig sein, Kim«, sagte sie. »Ich weiß genau, warum du keine Haare mehr hast. Ich bin Ärztin, und ich habe schon viele Kinder wie dich behandelt.« Sie sprach zögernd, da sie nicht wusste, ob die Kleine sie verstand.
Langsam drehte Kim sich um. Neugierig, die dunklen Augen noch voller Tränen, schaute sie Andrea an. »Ja? Stimmt das?«
»Bestimmt. Und ich weiß genau, dass deine Haare wieder wachsen werden.« Sie wollte dem Kind über den Kopf streicheln, so, wie sie es bei unzähligen kleinen Patienten schon getan hatte. Da bemerkte sie die Narben, die sich über die Hälfte des Schädels zogen – und die von Verbrennungen zeugten. Kim hatte sich einer massiven Strahlenbehandlung unterziehen müssen.
Irritiert sah Andrea zu Ole, der nur kurz den Kopf schüttelte.
»Woher kommst du? Du sprichst komisch.« Kims Tränen waren versiegt, neugierig sah sie Andrea an. »Und du hast soo schöne Haare!«
Andrea richtete sich auf. »Ich komme aus Deutschland, und Norwegisch kann ich noch nicht sehr gut. Weißt du, wo Deutschland liegt?«
»Klar! Ich gehe doch zur Schule! Und auch im Krankenhaus hab ich immer gelernt und auch ganz viele Hausaufgaben gemacht.«
»Das ist toll! Du scheinst sehr tapfer zu sein, Kim.«
»Das hat der Daniel auch gesagt. Er war mein Lieblingsdoktor. Und …«, ein Lächeln glitt über das schmale Kindergesicht, »er hat ganz lustiges Norwegisch gesprochen. Anders als du. Er kommt nämlich aus einem Land mit ganz hohen Bergen. Aus der Schweiz.«
»Da war ich schon mal. Sehr schön ist es dort. Es gibt viel Schnee, herrliche Seen und hohe Berge.«
»So hoch wie die Berge auf den Lofoten? Da kommen wir bald vorbei. Da treffen wir den Doktor Johan. Der hat mich …« Die Stimme kippte, Kim taumelte ein wenig. »Jetzt wird es wieder ganz dunkel, Ole«, klagte sie.
Der alte Mann hockte sich neben Kim und zog sie fest in die Arme. »Das geht gleich wieder vorbei. Denk an was Schönes. An die vielen Fische, die wir daheim fangen und zum Trocknen aufhängen werden, an dein
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