Mittsommersehnsucht
lebte die Familie in Trondheim, auf einer Insel im Fjord, die mit dem Festland durch eine private Brücke verbunden war.
»Lilian, was soll das? Warum versuchst du immer noch, mich zu manipulieren?«
»Aber das tut doch niemand! Ich liebe dich. So einfach ist das. Und deshalb möchte ich so oft es geht mit dir zusammen sein.«
Magnus schüttelte den Kopf. Doch noch bevor er etwas einwenden konnte, fuhr Lilian fort: »Paps hat eine Überraschung für uns – für dich, besser gesagt.«
»Ich will nicht noch mehr überrascht werden. Einmal am Tag reicht mir.« Er hasste sich dafür, dass er so unhöflich war, doch wie sollte er Lilian sonst begegnen?
Die junge Frau, die zu einer dunklen Designerjeans eine hellrote Bluse mit einer Weste aus gezupftem Nerz trug, zuckte nur mit den Schultern. »Sieh dir an, was er dir zeigen will. Dann reden wir weiter.«
Sie lenkte den Wagen durch die Straßen, wich geschickt einem umgeknickten Baum aus, den der Wind entwurzelt hatte, und umfuhr ein paar Mülltonnen, die auf die Straße gerollt waren.
»Gut, dass ihr heil zurück seid. Für den Abend hat man Orkanböen angesagt.« Sie legte ihm die Hand auf den Oberschenkel. »Sei lieb, mein Bär. Ich freue mich so auf die Überraschung. Du wirst Augen machen.«
»Ich hasse Überraschungen.«
»Die wird dich begeistern, da bin ich sicher.«
Sie hatten Magnus’ Wohnung erreicht, und Lilian folgte ihm wie selbstverständlich nach oben.
»Nimm dir einen Drink. Ich muss unter die Dusche.« Magnus warf das Regenzeug ins Badezimmer und schloss hinter sich die Tür. Er sah keine Veranlassung, allzu höflich zu sein. Lilian musste merken, dass sie ihn störte. Vielleicht begriff sie wirklich nur auf diese Weise, dass es vorbei war.
Er ließ das heiße Wasser auf die Haut prasseln. Es war eine Wohltat, die Wärme zu spüren. Während er sich einseifte, schloss er die Augen. Das Wasser rann über seinen Rücken, löste die Verkrampfung und vertrieb die eisige Kälte endgültig.
Als sich die Glastür einen Spaltbreit öffnete, zuckte er zusammen.
»Lilian, nicht doch!« Er wollte sie abwehren, aber da schmiegte sie sich bereits an ihn. Ihre Hände waren überall, ihr Mund glitt über seine Brust, über den flachen Bauch. Glitt tiefer und tiefer.
Magnus schloss ergeben die Augen.
29
D ie Trolle jagten ihn den Strand entlang. Ihre Gesichter waren zornig, sie fauchten und schüchterten ihn mit Drohgebärden ein. Er stolperte, fiel, rappelte sich wieder auf und hetzte weiter. Seine Lungen schmerzten, vor den Augen tanzten bunte Kreise, wurden zu Fratzen mit riesigen Mündern. Mündern, die ihn auffressen wollten.
Eine Hand griff nach ihm, er schlug sie fort.
Etwas klatschte ihm ins Gesicht, für einen Moment zerriss der rote Schleier vor seinen Augen. Er sah in Björns entsetztes Gesicht und schrie auf. Sein Bruder sah aus wie ein Troll … wirr stand sein Haar vom Kopf ab, er hatte einen Bart, böse blitzten die Augen. Und jetzt … jetzt wollte er ihn mit sich ziehen. Hinüber zu den Felsen. In eine Höhle, in der noch andere Trolle darauf warteten, ihn, Holger, zu quälen.
Wie irre schlug Holger um sich. Die Trugbilder, die ihm der Drogenrausch aufzwängte, ließen sich nicht vertreiben. Lauter, immer lauter gellten seine Schreie durch die Nacht. Er schlug seinen Bruder zu Boden und taumelte weiter, den schmalen, von hartem Gras überwucherten Strandweg hoch zu dem Haus mit dem hellen Licht. Licht war gut. Helligkeit bedeutete Sicherheit.
Vor dem Licht hatten die Trolle Angst.
»Um Himmels willen, was ist denn da draußen los?« Birgit Nerhus legte das Strickzeug beiseite. Seit Tagen arbeitete sie an einem dunkelblauen Pullover. Es war nicht einfach, mit hellem Garn Sterne und Rentiere einzuarbeiten, wie es sich ihr Neffe Björn wünschte, für den der Pulli war. Schon zweimal hatte Birgit ein paar Reihen wieder aufribbeln müssen, weil sie sich verzählt hatte. Im Gegensatz zu Holger, dem jüngeren ihrer Neffen, liebte Björn die traditionelle Kleidung, während sein Bruder modische Hemden und Jacken bevorzugte.
»Klingt, als würden Schlittenhunde raufen.« Johan Ecklund, in eine medizinische Fachzeitschrift vertieft, sah kaum auf.
So wie seit vielen Jahren saßen er und Birgit Nerhus am Abend zusammen – er im privaten Arbeitszimmer, dessen Schiebetüren zum Wohnraum immer offen waren. Birgit, die im obersten Stock ein Schlafzimmer hatte, saß in einem der bequemen Sessel neben dem Kamin. Jetzt, im Sommer, brannte darin
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