Mittsommersehnsucht
bei den Ahnen.«
»Ich weiß. Es tut mir so leid, dass man ihr in der Klinik nicht helfen konnte.«
»Ich habe es gewusst.« Die Stimme der alten Samin wurde leiser. »Aber mein Sohn … er ist modern, hat sogar gelernt, wie man mit dem Computer umgeht. Er wollte, dass Kim in die Klinik gebracht wird, obwohl die Schamanin wusste, dass es keinen Sinn hat.«
»Die moderne Medizin kann sehr viel heutzutage. Es war richtig, dass man es versucht hat.«
»Vielleicht.« Die Alte nestelte an ihrer Jacke, öffnete drei Knöpfe einer bunten Bluse und zog eine Lederkette hervor. Daran hing ein großer heller Anhänger, den sie in der Hand behielt. Sie führte die Hand an die Stirn, schloss kurz die Augen und murmelte etwas, was Andrea nicht verstand. Dann öffnete sie die Hand und hielt ihr ein Medaillon entgegen, das an einem dünnen Lederriemen hing. Es war eine fein geschnitzte runde Platte, in der Mitte waren von dem Künstler zwei Rentiere herausgearbeitet worden, die sich gegenüberstanden. Ihre Geweihe waren miteinander verwoben, obwohl es nicht aussah, als würden sie kämpfen. Obgleich das Medaillon kaum vier Zentimeter im Durchschnitt groß war, konnte man jede Kleinigkeit erkennen.
»Für dich. Damit danke ich dir für deine Hilfe.«
»Aber das kann ich nicht annehmen! Das ist sicher sehr wertvoll.« Andrea schüttelte den Kopf. »Ich habe Kim gern geholfen. Es ist meine Aufgabe, für kranke Menschen da zu sein.«
»Du musst es nehmen. Es wird dich schützen.« Der Blick der Alten verschleierte sich von einer Sekunde zur anderen, es schien, als blicke sie durch Andrea hindurch. Erst als ein zweites Fährschiff mit der Schiffssirene einen Gruß übers Wasser schickte, zuckte sie zusammen und kehrte in die Wirklichkeit zurück. Noch einmal hielt die alte Samin Andrea das Amulett hin. »Es ist aus einem Walzahn gearbeitet. Nimm es, trag es immer.« Und eindringlich fügte sie hinzu: »Und denk dabei an Kim.«
»Danke. Ich … ich bin sehr gerührt.« Ob die Alte verstand, was sie damit sagen wollte?
Sie hob kurz die Hand, dann drückte sie Andreas Arm und wandte sich ab.
»Bitte … einen Augenblick noch.« Andrea zögerte, dann fragte sie leise: »Hast du Ole zufällig gesehen? Ich … grüß ihn von mir.«
Ein dunkler Schatten huschte über das Gesicht der Alten. Ihre Miene war undurchsichtig, als sie sagte: »Ole ist fort.« Dann drehte sie sich um und ging zu ihrem Platz zurück.
»Mist! Ich habe wohl ein Tabu angesprochen.« Andrea ärgerte sich, dass sie so spontan gefragt hatte. Doch es interessierte sie wirklich, was mit Ole war, wo er jetzt lebte, ob er sich wieder versteckte. Das war doch kein Leben! Er war mit Sicherheit ein Mensch, der nur hier im Norden, in der Freiheit glücklich sein konnte. Es musste doch möglich sein, ihm zu helfen, seine Unschuld zu beweisen!
Leider hatte sie vergessen, Carina auf den Fall anzusprechen. Bei der nächsten Gelegenheit, das nahm sie sich vor, würde sie es tun. Der Kommissarin war es sicher möglich, noch einmal Nachforschungen anzustellen.
Andrea ging zur Reling und sah hinunter ins dunkle Wasser. Der Fahrtwind des Schiffes spielte mit ihrem Haar. Obwohl die Sonne schien, war es nicht allzu warm. Sie war froh, dass sie ihre dicke Jacke angezogen hatte und sich die Kapuze über den Kopf ziehen konnte.
Das Fährschiff näherte sich Svolvær. Der Wind flachte ab, die Strahlen der Sonne bekamen den wundervollen rotgoldenen Schimmer, was bei einigen Passagieren romantische Gefühle weckte. Immer mehr Pärchen standen, eng aneinandergeschmiegt, an der Reling und sahen zum Hafen hinüber.
»So hab ich mir den Norden vorgestellt«, sagte eine ältere Dame, ein grünes Tuch fest um den Kopf gebunden, auf Deutsch zu ihrem Begleiter. »Es ist so schön, dass wir diese Reise noch gemacht haben, Hans-Joachim. Das war doch unser Traum seit vielen Jahren. Jetzt müssen wir noch hoch zum Nordkap.«
»Bis dahin sind es aber noch mehr als tausend Kilometer«, warf Andrea ein. »Wissen Sie das?«
»So lange zieht sich das hin?« Der Mann, schmal und mit Halbglatze, verzog das Gesicht. »Muss das sein, Ulla? Ich finde, auf den Lofoten sollten wir ein paar Tage bleiben.« Verstohlen griff er sich an die Brust.
Andrea sah es, doch sie wollte sich nicht noch mehr einmischen. Wenn der Mann gesundheitliche Probleme hatte, würde er es seiner Frau gewiss sagen.
»Kennen Sie sich in der Gegend aus?«, erkundigte er sich jetzt.
»Ein bisschen.«
»Gibt es ein Hotel in
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