Mittsommersehnsucht
von einer norwegisch-schwedischen Stiftung unterhalten. Hier können von einer Jury ausgewählte Stipendiaten aus ganz Europa arbeiten.« Evelyn zuckte leicht mit den Schultern. »Seit zwei Jahren gehöre ich auch zur Jury.«
»Alle Achtung. Ich werde mir die Insel mal ansehen.«
Andrea atmete tief durch. Wie vertraut ihr der Geruch nach Meer und Fisch doch schon war! Gleich hinter dem Ortsende standen die ersten Trockengestelle für Stockfisch, an zweien hingen noch die starren, von der Salzluft getrockneten Dorsche.
Der schmale Strandstreifen kurz vor dem Doktorhaus war menschenleer. Zwischen den flachen Felsbrocken, die das Meer in Tausenden von Jahren glatt geschliffen hatte, wucherte helles Strandgras. Es gab zwei winzig kleine Buchten mit Sandstrand. Wie große helle Laken glänzten sie in der Sonne.
»Das ist Johans Reichtum.« Evelyn wies zu den hellgelben Sandflecken. »Es gibt kaum Sandstrand auf den Lofoten, und Johan wird um diese Oase beneidet.«
»Ja, ich weiß. Schade nur, dass man nicht ins Wasser kann.«
Die Malerin lachte. »Was hindert dich? Du musst nur abgehärtet sein, wenn du eine Weile baden willst. Der Golfstrom beschert uns schon recht angenehme Wassertemperaturen.«
»Für norwegische Verhältnisse wahrscheinlich. Ich bin mir nicht sicher, ob ich hier schwimmen möchte.«
Der Kies vor dem Haus knirschte leise, als Evelyn den Wagen zum Halten brachte. Ruhig und friedlich wirkte das hell getünchte Doktorhaus. Die beiden Blumenkübel seitlich der Haustür waren frisch bepflanzt. Weithin leuchteten gelbe Astern mit lilafarbenen Stiefmütterchen um die Wette. Die alten Birkenstämmchen hatten im hinteren Garten einen neuen Platz gefunden, wie Andrea wenig später feststellte.
An der Haustür hing, sorgfältig in Klarsichtfolie gehüllt, ein Zettel, der verkündete, dass die Praxis bis auf weiteres geschlossen sei. Darunter befand sich die Notrufnummer der Zentralklinik in Gravdal.
»Birgit hat an alles gedacht.« Andrea wuchtete den Koffer ins Haus. Evelyn folgte mit der Reisetasche und einer Flasche Sekt, die sie in einer Kühltasche aus dem Wagen geholt hatte.
»Bevor du auspackst, trinken wir erst mal auf deine Rückkehr.« Geschickt öffnete sie die Flasche, Gläser holte Andrea aus dem Küchenschrank.
»Es ist wirklich wie eine Heimkehr«, stellte sie fest. »Ich tue ja auch schon so, als sei ich hier zu Hause.«
»Bist du auch.« Evelyn schob sich mit einer für sie typischen Bewegung das Haar aus der Stirn. Ihr eben noch lächelndes, entspanntes Gesicht war ernst geworden. »Ich habe geträumt, dass ein Unglück passiert«, sagte sie und ging langsam hinüber in den Wohnraum. Dort stellte sie sich ans Fenster und schaute hinaus aufs Meer.
Andrea trat neben sie. »Du hast von Holger geträumt, diesem Junkie, und von seinem Drogentrip?«
»Nein.« Evelyns Blick war starr aufs Wasser gerichtet. Der Sturm hatte sich wieder gelegt, ruhig und fast so glatt wie ein Spiegel wirkte die Wasseroberfläche. Ein paar Papageientaucher, deutlich zu erkennen an ihren dicken gelben Schnäbeln, ließen sich von den sanften Wellen schaukeln.
Andrea, die ein feines Gespür für Schwingungen hatte, trank einen Schluck und sah aufmerksam in Evelyns plötzlich ganz ernstes Gesicht. »Was hast du denn geträumt?«
»Vom Tod.«
»Und – wer ist gestorben?«
»Keine Ahnung. Ich weiß nur …« Evelyn wandte sich vom Fenster ab. »Ach was, ich rede Unsinn.« Sie goss sich ihr Glas noch einmal voll und trank es in einem Zug leer. Es war unsinnig, Andrea von dem Traum zu erzählen, der sie seit fast einer Woche jede Nacht quälte. Sie sah sich selbst in ihrem Atelier stehen … blutend … hilflos. Vor ihr, auf der Staffelei, ein Bild mit einem Männerporträt. Doch das Gesicht blieb verschwommen. Wann immer sie versuchte, es deutlicher zu sehen, quollen rote Blutströme aus der Leinwand, ließen das Gesicht bis zur Unkenntlichkeit verlaufen. Es war ein verrückter Traum, und es war ganz unmöglich, davon zu erzählen. Sie straffte die Schultern. »Komm, schauen wir nach, was Birgit gekocht hat. Ich hab riesigen Hunger.«
Für den Moment ließ sich Andrea ablenken. Sie hatte am Morgen kaum etwas gefrühstückt. Carina, die morgens nur zwei Tassen Tee trank, hatte Croissants besorgt, doch auch Andrea hatte nur wenig Appetit gehabt.
Jetzt aber, beim Anblick des köstlichen Krabbensalats, den Birgit in den Eisschrank gestellt hatte, lief ihr das Wasser im Mund zusammen. Dazu gab es selbst
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