Mittsommersehnsucht
führen. Und den Vortrag für Oslo vorbereiten.«
»Ach was, das meiste ist fertig, und James und die zwei Kollegen sind ja auch noch da.« Magnus’ Stimme klang ein wenig atemlos vor freudiger Erregung. »Ich wäre jetzt so gern bei dir und würde dich küssen … Mein Gott, ich bin einfach nur happy.«
Andrea lachte. »Ich freue mich jetzt auch. Obwohl … ein bisschen verrückt ist das schon, was ich tue.«
»Du machst deinen Job. Was ist daran verrückt?«
»Ich bin Klinikärztin. Ich wollte in Bergen an einer Uniklinik arbeiten. Oder an einem gut geführten privaten Krankenhaus. Und jetzt werde ich Landärztin am Ende der Welt.«
»Ich bin so froh darüber.« Für Sekunden war es still geblieben in der Leitung, dann sagte Magnus: »Ich werde versuchen, so schnell wie möglich zu dir zu kommen. Andrea, ich liebe dich. Dich allein!«
»Ich … ich liebe dich auch.«
Er hatte ihr noch ein paar herrliche Dinge durchs Telefon zugeflüstert. Verrücktheiten, Zärtlichkeiten, die man sich nur in der ersten Zeit der Verliebtheit sagt.
Und Andrea wusste auf einmal genau, dass es richtig war, was sie tat.
»Hilfe!« Der laute Schrei zerriss die Idylle, vertrieb alle zärtlichen Erinnerungen.
»Woher kam das denn?« Andrea sah sich suchend um, konnte aber außer drei Touristen in khakifarbenen Parkas, die intensiv fotografierten, niemanden entdecken.
»Hilfe!« Ein junger Mann im blauen Overall kam auf die Aussichtsplattform gestürmt. »Meine Freundin … das Baby kommt … o mein Gott …«
»Ich bin Ärztin.« Andrea ging auf den aufgeregten Mann zu. »Wo ist deine Freundin denn jetzt?«
»Drüben bei mir … im Aufenthaltsraum. Sie … sie hat mich nur für ein paar Stunden besuchen wollen. Und … es ist doch noch zu früh …« Er umfasste Andreas Arm so fest, dass es schmerzte.
»Keine Sorge, alles wird gut. Kinderkriegen ist das Normalste von der Welt.«
Zum Glück behielt sie mit ihren optimistischen Worten recht. Die junge Frau, gerade mal zwanzig, lag mehr als sie saß auf einer Holzbank. Sie hielt sich den Leib und sah Andrea voller Angst entgegen.
»Ich bin Doktor Sandberg. Hallo.« Andrea lächelte der jungen Frau zu.
»Hei, Doc.« Die Schwangere erwiderte mühsam das Lächeln. Sie trug zu einer schwarzen Hose ein türkisfarbenes langes Hemd, über das sie eine schwarze Weste mit silberfarbenen Knöpfen gezogen hatte. Eine wattierte Jacke war ihr als Stütze in den Rücken geschoben worden.
»Wie heißt du?«
»Inga.«
»Im wievielten Monat bist du denn, Inga?«
»Im achten … übermorgen beginnt der neunte Monat.« Eine Wehe nahm ihr den Atem. Erst nach ein paar Minuten konnte sie wieder aufsehen. Ihr Haar, von ein paar lilafarbenen Strähnen durchzogen, klebte ihr an der Stirn. »Das ist doch viel zu früh für das Baby, oder?«
»Ach was, das schafft ihr schon, du und dein Kleines.« Andrea tastete nach dem Puls, der nur wenig beschleunigt war. Für die Situation jedoch war er ganz normal. »In welchem Abstand kommen …«
Die Wehen, hatte sie sagen wollen, doch in dem Moment stöhnte die junge Frau auf und krümmte sich erneut.
»Das Baby hat’s wohl sehr eilig.« Andrea bemühte sich, die leise Panik, die sie erfasst hatte, nicht merken zu lassen. Wie lange war es her, dass sie einem Kind auf die Welt geholfen hatte? Es war während des ersten Klinikjahres gewesen. Ihr war aber klar, dass sie es nicht mehr schaffen würden, die Gebärende hinunter zur Stadt zu bringen.
»Au! Das tut so weh! Hanjo!« Sie streckte die Hand nach ihrem Freund aus, doch der werdende Vater lehnte, blass und einer Ohnmacht nahe, an der gegenüberliegenden Wand und sah aus großen Augen dem Geschehen zu. In seinem Gesicht spiegelten sich Entsetzen und Not, und es war wohl bei ihm so wie bei den meisten Männern, die eine Geburt miterleben konnten: Er wünschte sich wohl, alles ungeschehen machen zu können.
»Atmen. Ruhig atmen.« Andrea sah sich nach Carina um, die ebenso eifrig wie vergeblich versuchte, den jungen Mann zu beruhigen. »Kommt, ihr müsst helfen! Ich brauche Tücher, heißes Wasser, wenn es zu beschaffen ist … einen besseren Platz für Inga. Die Bank ist viel zu hart.«
Aber es war zu spät. Andrea hatte gerade noch Zeit, die Kleidung der jungen Frau zu lockern und sie besser zu betten, dann drängte das Baby auch schon ans Licht der Welt.
Die Touristen, eben noch ganz vertieft in die wunderschöne Mitternachtssonne, die alles in rotgoldene Glut getaucht hatte, standen in einigem
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