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Mittwinternacht

Mittwinternacht

Titel: Mittwinternacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Phil Rickman
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für Infektionen anfälliger. Jedenfalls sieht Thomas Dobbs das so.»
    Sie gingen über den Rasen auf den dunklen Umriss der Kathedrale zu.
    «Und Sie», fragte Merrily, «was glauben Sie?»
    «Warten wir damit, bis wir drin sind.»
     
    Wie jedes Mal nahm sie die freundliche Atmosphäre dieses Ortes gefangen; die warmen Farben der Steinmauern; die Einfachheit der normannischen Säulengewölbe; das anheimelnde Glitzern der großen, modernen Corona, die immer ein bisschen schief zu hängen schien, obwohl sie das bestimmt nicht tat. Merrily war keine Expertin für mittelalterliche Architektur, aber für sie fühlte sich in der Kathedrale einfach alles richtig an.
    Ein altes Zentrum des Lichts und der Heilung.
    Sie gingen direkt ins nördliche Querschiff, das bis auf einen der Kirchendiener verlassen war. Es war ein rundlicher Mann mittleren Alters, der sich sichtbar entspannte, als er Huws Priesterkragen sah und Merrily erkannte.
    «Kann ich etwas für Sie tun?»
    «Ich habe einen Schlüssel.» Huw deutete auf die Tür in der Trennwand. «Wir brauchen ungefähr zehn Minuten.»
    «Ich muss aber in der Nähe bleiben», sagte der Kirchendiener, «wenn Sie nichts dagegen haben. Der Dekan ist ein bisschen nervös, seit dieses Fragment als gestohlen gemeldet wurde.»
    Huw blieb unvermittelt stehen. «Was war das eben?»
    «Das habe ich ganz vergessen», sagte Merrily. «Es fehlt ein Stück mit einer Ritterfigur von einem der Seitenpaneele.»
    «O nein», sagte der Kirchendiener. «Es fehlt gar nicht. Irgendwer muss sich geirrt haben. Als der Steinmetz heute Morgen da war, sagte er, dass alles vollständig ist. Das war wirklich eine Erleichterung, aber wir denken jetzt doch ein bisschen mehr über die Bewachung nach.»
    Huw sagte: «Wissen Sie, welches Teil es war? Welcher Ritter?»
    «Nein, das kann ich Ihnen nicht sagen. Die Steinmetze kommen am Montag wieder. Sie können jetzt den Schrein wieder zusammensetzen. Für die Zeremonie mit dem Kinderbischof ist das leider zu spät. Es wird das erste Mal sein, dass ein Kinderbischof den Schrein nicht ehren kann.»
    «Kinderbischof?»
    Merrily erklärte kurz, was es mit diesem jährlichen Ritual auf sich hatte, während Huw das Vorhängeschloss öffnete, vermutlich mit Dobbs’ Schlüssel. Sie sah die notdürftige Reparatur, die ausgeführt worden war, nachdem George Curtiss die Tür eingetreten hatte.
    Huw betrachtete das auseinandergenommene Grabmal, das noch mehr oder weniger genauso aussah wie an dem Nachmittag, an dem Merrily mit Jane und dem Archäologiestudenten da gewesen war. «Was passiert da, bei dieser Kinderbischof-Zeremonie?», fragte Huw.
    «Ich war noch nie bei einer. Vermutlich wird ein bisschen harmloser Kirchenprunk zelebriert.»
    «Harmlos?»
    «Warum sollte es nicht harmlos sein?»
    «Ich weiß auch nicht. Ich habe heute anscheinend meinen misstrauischen Tag. Und das gilt besonders für diese Sache mit dem vermissten Fragment. Zuerst fehlt ein Teilstück, dann wieder nicht. Kirchensteinmetze verzählen sich nicht.»
    «Was bedeutet, dass es entweder immer noch fehlt   …»
    «Oder zurückgebracht wurde. In diesem Fall wäre es doch interessant zu erfahren, wo es in der Zwischenzeit gewesen ist, finden Sie nicht?»
    Sie fragte sich einen Moment, ob er glaubte, der Dämon habe das Fragment irgendwie entmaterialisiert. Dann ging ihr auf, was er wirklich gemeint hatte.
    «Es ist kaum nachzuvollziehen, besonders, wenn man es in diesem Zustand sieht», er ging zwischen den aufgereihten Stücken umher, «dass dieser Schrein einmal das Herzstück von allem hier war. Man muss sich einmal vorstellen, wie viel psychische und emotionale Energie, Verehrung und Verzweiflung über Jahrhunderte hinweg in diese kleine Stelle eingeflossen sind   …»
    «Das kann man nicht.
Ich
kann es jedenfalls nicht.»
    «Und dann muss man sich vorstellen, dass auf demselben Stein – als er weg war – warmes Blut und Eingeweide verschmiert wurden.»
    «Huw!»
    «Und dann wurde er zurückgebracht.» Er zuckte mit den Schultern. «War nur so ein Gedanke.»
    Merrily sah zu dem großen Bleiglasfenster empor, auf dem eine Ritterfigur ihren Speer in den Schlund eines Drachen stieß.
    «Also gut – was wäre, wenn die Waage sich neigt, wenn die stärkere Macht in dieser Kirche die Macht des Bösen wäre?»
    «Auch wenn nur eine kleine Spur des Bösen hier wäre, hätte sie einen schlechten Einfluss. Denken Sie mal an den ganzen Stress, den es in der Lincoln Cathedral gab. Schreckliche

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