Modemädchen Bd. 1 - Wie Zuckerwatte mit Silberfäden
Kleider für einen Stand auf dem Portobello-Markt nähen kann, aber sie braucht einen Raum zum Arbeiten, weil sie in einer winzigen Wohnung bei ihrer Tante lebt und aus Afrika kommt und kaum Geld hat, und überall stapeln sich die Sachen, und sie hat überhaupt keinen Platz zum Nähen, und ich glaube, dass sie eine tolle Designerin werden könnte«, rattere ich weiter, »wenn wir ihr helfen.«
Wir sehen einander schweigend an. Dann tut Mum etwas vollkommen Unerwartetes. Sie bückt sich, nimmt meine Wangen (mit den misslungenen Wangenknochen) und küsst mich auf die Stirn. Ich bin SO klein.
Es fühlt sich gut an, aber ich bin mir nicht sicher, was es bedeutet. Also plappere ich weiter.
»Ich meine, du hilfst deinen Künstlern immer, deshalb trete ich sozusagen in deine Fußstapfen, und wir haben doch das Zimmer unten, wo Granny manchmal wohnt, wenn sie zu Besuch ist, aber meistens steht es leer, und ich weiß, dass deine Künstler manchmal dort übernachten, wenn sie in London sind, aber es ist ja nur für eine kurze Zeit und es würde Krähe wirklich helfen, sie ist so nett und Harry hat sie auch schon kennengelernt.« Mein Schlusssatz klingt irgendwie lahm. Ich weiß nicht, warum die Tatsache, dass Harry sie kennengelernt hat, etwas ändern sollte, aber wer weiß.
Mum nimmt mir die Zeichnungen aus der Hand und betrachtet sie eine ganze Weile.
»Sie sind gut. Wie alt ist sie?«
»Zwölf.«
Mum schnappt nach Luft, als hätte sie einen zu heißen Schluck Cappuccino getrunken. Dann flucht sie auf Französisch. Eins der Wörter, die ich mit Tipp-Ex auf meine Converse gepinselt habe. Die französischen Schimpfwörter sind ein Souvenir aus ihrer Zeit als Model. Sie mustert die Zeichnungen immer noch.
»Und?«, frage ich endlich.
»Natürlich«, sagt sie lächelnd. »Sie kann Grannys Zimmer haben.«
Ich warte auf das Aber. Es war viel zu einfach bisher. Doch es kommt keins. Vielleicht habe ich meine Mutter besser im Griff, als ich dachte. Vielleicht hat Krähe wirklich so viel Talent.
Zwei Tage später laden wir Krähe und Florence zu uns zum Tee ein. Mum findet Krähe auf Anhieb sympathisch und hört nicht auf zu schwärmen, wie wunderbar ihre Zeichnungen sind. Dann nehmen wir sie mit nach unten in den Raum, den Mum vor Jahren als Gästezimmer eingerichtet hat.
Es hat Riesenspaß gemacht, Platz für den großen Arbeitstisch zu schaffen und das Atelier mit Gegenständen einzurichten, die Krähe beim Arbeiten vielleicht gebrauchen kann: den weichen lila Samtsessel aus meinem Zimmer, eine schrullige alte Lampe aus dem Wohnzimmer und sogar eine Modepuppe, die Mum zu ihren Pariser Modelzeiten in einem Antiquitätenladen gekauft hat und die seitdem im Gästezimmer herumsteht. Das Bett haben wir mit lauter bunten Kissen in eine Art Sofa verwandelt. Außerdem gibt es drei Hutständer und eine Kleiderstange, auf die sie die fertigen Sachen hängen kann.
Als Florence das Zimmer sieht, wirft sie die feingliedrigen Hände in die Luft, die wie Schmetterlinge vor ihrem Gesicht flattern, während sie stocksteif im Türrahmen steht und nach Worten ringt. Krähe marschiert schnurstracks auf die Modepuppe zu und berührt sie ehrfürchtig. Dann geht sie zu der Glastür, die in den Garten führt, und sieht hinauf in den Himmel. Danach setzt sie sich auf das Sofa-Bett und streckt die Arme seitlich aus, während sie den Arbeitstisch bewundert. Sie nickt ganz ruhig. Es ist in Ordnung.
Krähe bedankt sich nicht für das Atelier. Oder für sonst irgendwas, das wir für sie tun wollen. Emotionale Ausbrüche sind nicht ihr Ding. Aber schon nach wenigen Stunden ist sie zurück aus der winzigen Wohnung und hat den Raum mit ihren Schätzen eingerichtet. Ihre kleine schwarze Nähmaschine steht auf dem Tisch. Ihre fertigen Kleider beginnen die Kleiderstange und die Hutständer zu füllen. Ein hoher Stapel ihrer Lieblingsentwürfe und Inspirationen wartet darauf, an den großen Pinnwänden verteilt zu werden. Ein halb fertiges Kleid ist über die Modepuppe drapiert. Schnittmuster bedecken das Bett und den Boden. Als ich den Kopf durch die Tür stecke, um zu sehen, wie es ihr geht, kann sie ihr Lächeln nicht unterdrücken.
Phase zwei erfolgreich abgeschlossen.
Edie hat für den letzten Schultag ein Video über die unsichtbaren Kinder in den ugandischen Lagern organisiert, das vor der ganzen Schule gezeigt wird. Wir sehen, wie sie singen. Und tanzen. Und Armbänder machen, die sie verkaufen. Und über Bekannte, Verwandte oder Freunde
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