Modemädchen Bd. 1 - Wie Zuckerwatte mit Silberfäden
sprechen, die an Aids gestorben sind. Oder ermordet wurden, oder entführt. Wir sehen, wie manche von ihnen zur Schule gehen. Doch die meisten können nicht zur Schule gehen, weil es keine Schule gibt.
Unsere Schulleiterin macht ein sehr ernstes Gesicht, und ein paar aus der Oberstufe schnäuzen sich hörbar in den Ärmel. Es ist nicht gerade die spaßigste Veranstaltung, um das Schuljahr ausklingen zu lassen, aber es geht darum, dass wir uns bewusst machen sollen, wie gut es uns geht, und die Welt mit unseren edlen Taten beglücken sollen.
Am Ende steht eine ältere Schülerin auf und erklärt uns, wie wir mit allen Bewohnern dieses Planeten verbunden sind. Siesagt, wir sollen uns nicht von billigem Starruhm beeindrucken lassen, sondern mit unserem Leben etwas Sinnvolles anstellen.
Dann bekommt Edie so viele Preise verliehen, dass ich ihr tragen helfen muss, als sie zur Bühne geht, um noch mehr zu bekommen. Der ganz normale Wahnsinn.
Allerdings muss ich am nächsten Tag im Morgengrauen zum Flughafen, um Jenny abzuholen, die gerade von der Kid Code- Premiere in Tokio zurückkommt – mit lauter Geschichten von billigem Starruhm, die sie von ihren Hollywood-Freunden zu erzählen hat. Und sosehr ich mich anstrenge, edel und unbeeindruckt zu bleiben, Promiklatsch ist einfach FASZINIEREND. Ich könnte euch einiges erzählen, aber ich bin zu absolutem Stillschweigen verpflichtet. Ihr wisst schon, dieses CIA-Gelübde, das man ablegen muss, wenn man mit Leuten befreundet ist, die Stars kennen.
Ich kann nur so viel verraten – in den meisten Geschichten geht es um Leute, die ihr alle aus Zeitschriften kennt, die wir eigentlich nicht kaufen sollen, und bei manchen davon würden euch DIE HAARE ZU BERGE stehen. Solche Geschichten tragen natürlich kein bisschen dazu bei, die Welt zu einem besseren Ort zu machen, aber sie machen sie auf jeden Fall sehr viel amüsanter.
Jenny will Krähe unbedingt kennenlernen. Gerade als es anfing, interessant zu werden, war sie abgereist, und seitdem habe ich sie per E-Mail auf dem Laufenden gehalten: über Krähes neue Entwürfe, ihre unglaublichen Zeichnungen und ihr neues Atelier bei uns zu Hause. Edie hat ihr von Krähes Fortschritten beim Lesen und von dem Video über die unsichtbaren Kinder berichtet. Leider habe ich das Gefühl, dass Edie versucht, mir in Sachen Krähe Konkurrenz zu machen, aber ich habe die Nase weit vorn. Nicht dass es ein Wettbewerb ist.
Wir treffen uns im Atelier. Krähe trägt ihre neue Arbeitskleidung: blaue Latzhosen und Puschen. Beim Designen kann sie Elfenflügel und Tutus nicht gebrauchen. Jenny ist von allem begeistert. Man merkt, dass sie viel Zeit mit Schauspielertypen verbracht hat. Alles ist HINREISSEND oder FANTASTISCH oder ENTZÜCKEND. Krähe schneidet einfach ihre Stoffe zu und beachtet sie nicht weiter.
Aus Tokio hat Jenny Krähe ein paar niedliche Outfits als Anschauungsmaterial mitgebracht. Mit großer Geste holt sie die Sachen hervor. Krähe sieht ansatzweise dankbar aus, aber genau ist es nicht zu erkennen. Also blickt sich Jenny wieder bewundernd im Zimmer um. Vor den Zeichnungen der tanzenden Mädchen bleibt sie lange stehen. Offensichtlich denkt sie über etwas nach.
»Kann ich dir beim Arbeiten zusehen?«, fragt sie schließlich.
Krähe sieht überrascht aus und zuckt die Schultern. Jenny nimmt es als Ja und rollt sich auf dem lila Sessel zusammen, wo ihr vom Jetlag erschöpfter Körper nach wenigen Minuten erschlafft, und dann fängt sie an leise zu schnarchen.
Eine Weile sehe ich Krähe alleine zu. Ich würde ihr gerne helfen, aber ich habe es schon versucht, und alles, was sie tut, ist viel schwieriger, als es aussieht. Besonders das Zuschneiden. Krähe tut es mit langen, selbstbewussten Schnitten, aber ich habe gesehen, wie sie den Stoff danach weiterverarbeitet, und wenn man nur den kleinsten Fehler macht, ist alles hin. Das letzte Mal, als ich ihr helfen wollte, habe ich einen winzigen Fehler gemacht, und sie war zwar sehr gnädig, aber seitdem habe ich meine Hilfe nicht mehr angeboten.
Manchmal frage ich mich, ob es fair ist, ein Mädchen ihres Alters so viel arbeiten zu lassen. Irgendwann habe ich Mum gefragt, als sie runterkam, um nachzusehen, wie Krähe vorankommt.
»Wir zwingen sie doch wirklich nicht«, sagte sie. »Ich würde sagen, wenn man uns was vorwerfen kann, dann höchstens, dass wir sie nicht aufhalten.«
Das stimmt. Ich betrachte Krähes Gesichtsausdruck beim Zuschneiden. Sie ist vollkommen konzentriert,
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