Modemädchen Bd. 1 - Wie Zuckerwatte mit Silberfäden
nicht verdient. Sie haben ja keine Ahnung, wie lange Krähe schon Kleider entwirft. Oder wie hart sie arbeitet. Oder wie gut sie ist.
Eigentlich sehe ich Krähe kaum, aber es ist schwer zu vergessen, was los ist. Mum hat angefangen, wieder von ihren Laufstegtagen zu schwärmen, und Amanda meldet sich mehrmals die Woche per Telefon oder E-Mail mit Ideen, wo wir Stoffe oder Schuhe oder all die anderen Dinge herbekommen können, die Krähe für ihre Modenschau brauchen wird.
Seltsamerweise ist es Edie, die das Problem erkennt. Wir anderen lassen uns von der Aufregung zu sehr ablenken.
Es ist Mittagspause, und ich versuche noch schnell, ein paar Hausaufgaben fertig zu bekommen. Edie hat ihre natürlich längst gemacht, und sie hat Lust, sich zu unterhalten.
»Erklär mir mal eins«, fängt sie an. »Diese Sache mit der Kollektion. Auf meinem Blog habe ich den Kommentar eines Mädchens aus Usbekistan bekommen, das mich bittet, die Kollektion zu beschreiben. Und da kam es mir plötzlich. Ich meine, Krähe macht doch jeden Tag Kleider. Was ist das Besondere an einer Kollektion?«
Ich lege den Stift weg und seufze. Die linearen Gleichungssysteme müssen warten. Das hier ist wichtig. Wie erkläre ich es ihr in einer Sprache, die Edie versteht?
»Du hast doch lauter kluge Gedanken und Ideen zu Shakespeare, oder?«
»Ja.«
Dieses Halbjahr ist Edie ein LEIDENSCHAFTLICHER Shakespeare-Fan. Sie ist INSPIRIERT. Tatsächlich ist es UNVORSTELLBAR, dass je ein anderer Teenager vor ihr begriffen hat, wie groß dieser Mann wirklich ist. Sie hat fast alles von ihm gelesen. Dank Edie weiß ich mehr über Hamlet, als ich je wissen wollte.
»Und wenn du jetzt einen Aufsatz über Shakespeare schreiben müsstest, könntest du doch einfach das ganze Zeug zusammenschreiben, das du mir in letzter Zeit zu erklären versucht hast, oder?«
Edie denkt nach. »Wie? Einfach so?«
»Genau.«
Sie lacht. »Na ja, zuerst müsste ich meine Gedanken natürlich ordnen. Und dann gibt es Punkte, die mir besonders wichtig sind. Ich müsste eine Art roten Faden haben, der den Leser durch den Aufsatz führt, und …«
Sie macht eine Vollbremsung. Wie gesagt, sie ist nicht dumm.
»Du meinst, es ist wie ein Aufsatz über Shakespeare?«
»Für dich. Ich meine, es ist deine Chance, der Welt etwas zu zeigen, das dir wirklich etwas bedeutet. Und dafür hast du eine halbe Stunde, Maximum. Krähe hat noch viel weniger, weil ihre Kollektion ganz klein ist. Du musst deine Vision erklären. Du musst ihr eine Gestalt geben. Es ist eine Geschichte. Und in der Geschichte geht es um deine Vorstellung von Schönheit. Es geht um die Dinge, die dich inspiriert haben und wie du sie auf ganz neue Art zusammenfügst. Du kannst nicht einfach die Schnipsel zusammenkleben, die zufällig in deiner Werkstatt auf dem Boden herumliegen.«
Edie sieht mich durchdringend an. Ich frage mich, ob ich einen Pickel auf der Nase habe oder ein Stück vom Mittagessen zwischen den Zähnen.
»Das alles bedeutet dir wirklich viel, Nonie, oder?«, sagt sie.
Ich frage mich, ob sie wieder mal meine Oberflächlichkeit kritisieren will. Doch sie sieht meine Zweifel und lächelt.
»Ich meine es positiv. Bei dir klingt es wie Poesie.«
»Es ist Poesie.« Ich dachte, das wäre klar.
»Macht es dir was aus, wenn ich dich in meinem Blog zitiere? Wie gesagt, die Leute fangen an, Fragen zu stellen.«
»Mach nur.« Die Vorstellung, Mode-Expertin zu sein, gefällt mir irgendwie.
»Aber abgesehen davon«, sagt Edie, als es zur nächsten Stunde klingelt, »was ist Krähes Leitmotiv? Die große Idee für ihre Kollektion?«
Und da fällt mir auf, dass ich es nicht weiß. Bei all der Aufregung und den Anrufen und Interviews und Blumen hat keiner von uns daran gedacht, sie zu fragen, was sie machen will.
Wieder sieht Edie meine Zweifel.
»Ich meine, sie hat doch eine Idee, oder?«
»Natürlich«, sage ich unverbindlich. »Muss sie ja. Sie ist nur … Ich sag dir Bescheid. Ich muss mit ihr darüber reden.«
Während der Rest des Nachmittags vorbeirauscht, wird mir klar, dass es nur noch zwölf Wochen bis zur Modenschau sind und ich unbedingt herausfinden muss, worum es geht.
Als ich Krähe endlich erwische, sitzt sie in einer alten Latzhose, den Elfenflügeln und flauschigen Hausschuhen auf dem Boden im Atelier und arbeitet am Saum eines Pullovers. Er ist aus Silberfäden und soll zu ihren Blütenblätterröcken passen. Als sie fertig ist, beißt sie den Faden ab und reicht mir den
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