Modemädchen Bd. 1 - Wie Zuckerwatte mit Silberfäden
Pullover.
»Probier ihn an«, sagt sie.
Ich gehorche. Der Pullover hüllt mich ein wie eine Elfenkuscheldecke. Und plötzlich habe ich wieder Brüste und Hüften. Ich habe keine Ahnung, wo sie die einbaut. Ich betrachte mich im Spiegel. Ich sehe aus wie achtzehn und ein bisschen wie ein Model, allerdings in vertikaler Verkürzung. Krähe nimmt eine Nadel und beginnt ihn mir anzupassen, wobei sie mich ab und zu pikst.
»Au!«
Krähe sagt nichts, sondern konzentriert sich auf das, was sie tut.
»Und«, sage ich beiläufig. »Wie läuft es mit der Kollektion?«
Sie zuckt die Schultern und pikst mich wieder.
»Au, au, au!«
»Hör auf zu reden«, sagt sie. »Du lenkst mich ab.«
»Aber ich muss. Bestimmt läuft alles nach Plan und so weiter, aber … weißt du … wir haben uns ewig nicht mehr unterhalten über … du weißt schon … deine Modenschau. Bist du zufrieden?«
Sie zuckt wieder die Schultern. Diesmal verfehlt mich die Nadel.
»Du arbeitest doch an den Entwürfen, oder nicht?«
Sie weicht meinem Blick im Spiegel aus. Es ist unmöglich, diese Unterhaltung in einem halb fertigen silbernen Pullover zu führen. Gegen Krähes Protest ziehe ich ihn aus und setze mich auf den Boden. Es läuft mir kalt über den Rücken, und das liegt nicht daran, dass ich den Pullover ausgezogen habe. Ich spüre, irgendwas stimmt nicht. Und ich werde das Gefühl nicht los, dass es meine Schuld ist.
»Krähe … willst du das alles überhaupt?«
Das ist die Frage, die ich kaum auszusprechen wage. Ich weiß nicht, wie ich sie über die Lippen gebracht habe. Doch vor mir sitzt dieses gerade mal dreizehn Jahre alte Mädchen, umzingelt von Modesüchtigen, die für sie beschließen, wie ihr Leben zu laufen hat. Ich dachte – wir alle dachten –, dass die Modenschau genau das ist, wovon sie immer geträumt hat, wie jeder Modestudent auf der ganzen Welt. Wahrscheinlich sogar in Usbekistan. Aber vielleicht haben wir uns alle geirrt.
Im Schneidersitz sitzt sie am Fenster mit dem Pullover auf dem Schoß und untersucht die Nähte, während sie meinem Blick ausweicht.
»Weil«, ich schlucke, »du musst nicht. Vielleicht haben wir einen Fehler gemacht. Es tut mir leid. Ich habe dich da einfach reingezogen. Vielleicht ist es zu viel verlangt …«
»Oh, Nonie!«
Jetzt legt sie den Pullover zur Seite und kommt zu mir. Sie wirft mir nicht direkt die Arme um den Hals, aber sie setzt sich vor mich, und in ihren Augen ist ein feuchtes Glitzern.
»Das hier ist … mein Leben. Mein Leben lang habe ich mir im Kopf diese wunderschönen Dinge vorgestellt. Und jetzt kann ich sie machen.«
Krähe spricht nicht viel. Für sie ist es eine lange Rede. Ich bin sehr gerührt. Aber irgendwas an der Art, wie sie es sagt, klingt wie ein Abschied.
Ich merke, dass auch meine Augen feucht werden.
»Aber warum …?« Ich habe einen Frosch im Hals, doch ich muss weitersprechen. »Was ist so schlimm daran, den Leuten zu zeigen, was du kannst? Denk drüber nach. Jemand gibt dir Tausende von Pfund, damit du deine Träume verwirklichen kannst. Du bekommst richtige Models für deine Kleider. Und Musik. Und Beleuchtung.«
Bei der Vorstellung leuchten Krähes Augen einen Moment lang auf. Doch dann, genauso schnell, verfliegt der Ausdruck wieder und ihr Blick wird leer.
»Was ist es dann?«
Mit einem Finger fährt sie das Muster auf dem Teppich nach. Sie spricht sehr leise.
»In meinem Land haben die Menschen keine Häuser. Jeden Tag begräbt mein Vater jemanden, der an Aids gestorben ist. Sie können keine Nahrungsmittel anbauen. Victoria kann keinerichtige Schule besuchen. Mein Vater unterrichtet die Kinder im Freien, wo sie im Kreis auf der bloßen Erde sitzen …«
Sie sieht zu mir auf.
»Wie kann ich da eine Kollektion entwerfen? Mit so viel Geld könnte man zwanzig Schulen bauen. Wie kann ich es für Kleider ausgeben?«
Ich sage nichts. Wie könnte sie? Ich bin nur ein Mädchen mit einer Vorliebe für Kunstrasenröcke und billigen Starruhm. Was weiß ich schon?
Krähe zeigt auf den silbernen Pullover. Er ist unwiderstehlich schön.
»Jedes Mal, wenn ich mit einem Entwurf fertig bin, habe ich ein schrecklich schlechtes Gewissen. Zuerst summt mir die Schönheit im Kopf herum, so lange, bis ich sie endlich draußen habe. Ich kann nichts dagegen tun. Aber so viele Sachen auf einmal … Amanda hat es mir aufgezählt. Zwölf Outfits können leicht fünfzig Einzelteile bedeuten. Kleider, Jacken, Röcke …« Sie hat Tränen in den
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