Modemädchen Bd. 1 - Wie Zuckerwatte mit Silberfäden
Boden. Und wir heulen alle, außer Krähe. Ich schätze, sie hat schon genug geheult, als sie ein kleines Mädchen war. Zum ersten Mal wird mir richtig klar, wie dick der Schutzwall ist, den sie um sich gebaut hat.
Jenny und Edie waren sofort bereit mitzukommen, als ich sie angerufen habe. Beide sehen schockiert aus. Jenny hat immer noch den Schlafanzug an. Sie wollte gerade ins Bett gehen, als mein Anruf kam, und hat sich einfach den Mantel übergeworfen.
»Das hättest du uns sagen sollen!«, schluchzt sie und weint noch mehr als alle anderen.
»Wir können nicht über Henry sprechen«, sagt Florence leise. »Es gibt keine Worte. Er war der Älteste. Er war der einzige Sohn. Was könnten wir sagen?«
Und nachdem sie erklärt hat, dass es dafür keine Worte gibt, beginnt sie, bis spät in den Abend von ihrem geliebten Neffen zu erzählen, und holt Fotos von einem großen hübschen Jungen heraus, der zuversichtlich in die Kamera blickt, manchmal allein, manchmal mit seiner kleinen Schwester, um die er schützend den Arm legt. Er lächelt auf jedem Bild. Und er hat immer einen Ranzen voller Bücher über der Schulter.
Krähe sitzt neben Florence, sieht mit verhangenem Blick zu, lauscht schweigend.
»Er war dreizehn. Ein sehr guter Schüler«, sagt Florence. »Sein Vater war so stolz auf ihn. Er hat englische Literatur geliebt. Wollte Dichter werden. Es gibt da diesen englischen Dichter namens Ted Hughes. Henry liebte seine Gedichte. Er hatte immer die Nase in einem Buch. Selbst wenn er eigentlich arbeiten sollte. Damit haben sie ihn ständig aufgezogen. Aber in der Schule hatte er die besten Noten.«
»Was ist passiert?« Ich wage kaum zu fragen, doch ich muss es wissen.
»Henry ist jede Nacht mit Elizabeth in die Stadt gelaufen. Er hat gut auf sie aufgepasst. Aber dann hat Grace noch ein Baby bekommen. James musste über Nacht weg, und Henry blieb bei seiner Mutter, um ihr zu helfen. Das war die Nacht, in der sie kamen.«
Dann spricht Krähe zum ersten Mal. Sie flüstert leise.
»Als ich am nächsten Tag heimkam, stand das Dorf in Flammen. Die Vorräte waren weg. Die Menschen waren weg. Da waren nur … Leichen. Die Schule hat gebrannt. Es war keiner zu Hause. Meine Mutter hat sich mit dem Baby versteckt. Dann kam mein Vater. Wir sind meine Mutter suchen gegangen. Und Vater hat mir von Henry erzählt.«
Sie wischt sich eine einzelne Träne von der Wange.
»Er musste es mir mehrmals erzählen, bis ich es verstanden habe.«
»Aber gibt es denn keine Möglichkeit, ihn zu finden?«, fragt Edie vorsichtig.
»Es wurden so viele Tausend Kinder entführt«, sagt Florence traurig und breitet die ausdrucksvollen Hände vor sich aus. »So viele Lager. Kein Telefon. James hat es jahrelang versucht. Doch keine Spur. Was können wir tun? Wir wissen nicht einmal, ob er noch am Leben ist.«
Edie sieht nachdenklich aus, aber nicht überzeugt.
Nachts liege ich im Bett und mache mir Gedanken. Erschrocken fällt mir auf, dass Harry ein Spitzname für Henry ist. Und dass mein Harry ungefähr im gleichen Alter ist, in dem Krähes Henry jetzt wäre. Kein Wunder, dass sie so viel Zeit mit ihm verbracht hat. Ich frage mich, ob Harry der wahre Grund ist, warum sie so oft bei uns war. Plötzlich habe ich ein schlechtes Gewissen, dass ich einen älteren Bruder habe, den ich so liebe, selbst wenn er mich manchmal wie ein kleines Mädchen behandelt. Nur weil er zufälligerweise meistens Recht hat.
Am nächsten Tag ist Freitag. Ich stehe früh auf und fahre nach Kensington, um zu sehen, wie es Krähe geht.
Sie ist in ihrem Zimmer, doch sie ist schon lange auf und zeichnet. Als ich reinkomme, sieht sie mich nicht an. Ich tretevon einem Fuß auf den anderen und weiß nicht, was ich sagen soll. Über dem Schreibtisch hängt ein altes Foto, das ich noch nicht kenne, mit Tesafilm etwas schief an die Wand geklebt. Es ist Henry, das Gesicht im Schatten, den Ranzen über der Schulter, die Hand auf dem Arm eines kleinen Mädchens, das ziemlich genau so aussieht wie Victoria heute. Auch ihr Gesicht ist im Schatten, aber sie hat den Kopf zutraulich an ihn gedrückt. Ich vermute, dass sie lächelt.
»Du musst ihn so vermissen.«
»Ich hatte ihn vergessen«, sagt sie, während ihr Stift über das Papier huscht. »Wir reden nie über ihn, weil … Es war wie ein seltsamer Traum. Ich habe vergessen, wie er lächelt. Wie lustig er war. Wie er mich immer aufgezogen hat.« Ihre Stimme ist ganz ruhig. »Die ganze Zeit hatte ich diesen Schmerz,
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