Moderne Piraten
Mit voller Kraft schlug die Schraube das Wasser. Vorn am Bug stand ein Bootsmann und hielt Ausguck. Plötzlich horchte er auf. Wie ein Ruf war’s von fern an sein Ohr gedrungen.
»A moi, à moi!«
Er spähte in die Richtung, aus der der Ruf zu kommen schien, und lauschte.
»A moi, à moi!« klang es da wieder. Und nun – der Mond kam eben wieder durch die Wolken – glaubte er Backbord voraus etwas Dunkles treiben zu sehen. Jetzt schien es in dem trügerischen Licht zu verschwinden, jetzt war es wieder da.
Der Bootsmann lief auf die Brücke. »Eh, patron! Des naufrages!« Er wies mit der Hand die Richtung.
Der Schiffspatron blickte dorthin. Jetzt wieder ein Mondblick, auch der Patron glaubte, etwas auf der Wasserfläche zu sehen. Das Ruderrad in seiner Hand drehte sich, das Boot nahm leichten Linkskurs. Immer näher kam es der Stelle, und bald war kein Zweifel mehr möglich. Ein gebrochener Mast trieb auf dem Wasser. Zwei Gestalten klebten daran. Die eine hob den Arm, winkte, schwenkte etwas in der Hand und schrie: »A moi, à moi!«
»Stopp!« ging das Kommando von der Brücke in die Maschine, und die Schraube stellte ihr wirbelndes Spiel ein. Langsam glitt das Dampfschiff bis dicht an die Unfallstelle heran und setzte ein Boot aus.
»A moi!« Noch einmal stieß Rudi den Hilferuf aus. Dann, während kräftige Matrosenfäuste ihn ergriffen und ins Boot zogen, schwanden auch ihm die Sinne. Bewußtlos war auch der andere, den sie zuerst vom Mast losbinden mußten. Bis zum äußersten erschöpft und verklammt waren alle beide durch den stundenlangen Aufenthalt im kalten Wasser. Man brachte die Schiffbrüchigen in eine Kabine und zog ihnen die triefenden Kleider vom Leibe. Während das Dampfboot seine Fahrt fortsetzte, wurden sie in wollene Decken gehüllt, gerieben und frottiert, bis die Erstarrung wich, bis ihr Blut wieder kräftig durch die Adern zu rollen begann und die Lebensgeister zurückkehrten.
Um zwölf Uhr nachts machte das Dampfboot am Rhonekai fest. Außer andern Fahrgästen verließen zwei etwas abenteuerliche Gestalten das Schiff. Ihre groben Matrosenanzüge waren bestimmt nicht nach Maß gemacht. Ein nasses Bündel, das der Jüngere über dem Arm trug, zeugte vom überstandenen Schiffbruch. —
Es ging schon stark auf Mittag, als Gransfeld am nächsten Tage aus dem Bett sprang. Ein langer, wohltuender Schlaf hatte seiner kräftigen Natur geholfen, die üblen Folgen des nassen Abenteuers zu überwinden. Er dehnte die Glieder, reckte und streckte sich. Alles heil. Bei dem Zusammenprall war er mit der Schläfe gegen den Motor der »Céleste« geschleudert worden und hatte durch den schweren Stoß die Besinnung verloren. Aber Gott sei Dank – er betastete sich von allen Seiten – bis auf ein paar blaue Flecke und Beulen war er gut davongekommen.
Was war’s mit jenem Unfall? In schwerem Nebel hatte sie ein Motorboot gerammt. Es konnte ein unglücklicher Zufall sein. Doch warum hatte das andere Boot nicht sofort abgestoppt, warum hatte es nichts zu ihrer Rettung unternommen? War es bei dem Zusammenstoß ebenfalls stark beschädigt worden? War es vielleicht manövrierunfähig, womöglich sogar gesunken? Oder hatte es nach ihnen gesucht und sie im Nebel nicht finden können? Das alles war möglich, aber es wurde Gransfeld schwer, an diese Möglichkeiten zu glauben. War es dies aber nicht, dann konnte es nur ein neuer Streich der Bande sein, die sich seiner um jeden Preis zu entledigen versuchte. Dann war es am Ende nicht gut, noch länger in Genf zu bleiben.
Während Gransfeld sich den Rock überzog, klopfte es, und Rudi, einen Matrosenanzug unter dem Arm, kam herein. Ihm war von dem kalten Bad überhaupt nichts mehr anzumerken, und munter schwatzte er darauf los. »Ich möchte zum Kai gehen, Herr Doktor, und die geliehenen Sachen zurückbringen. Das Dampfschiff geht um ein Uhr mittags wieder ab.«
Gransfeld warf einen Blick auf die Uhr. »Da hast du noch anderthalb Stunden Zeit, Rudi. Das eilt doch nicht. Erzähle mir lieber, was du von der gestrigen Sache hältst! Du gucktest doch gerade über den Bordrand, als der Zusammenstoß erfolgte. Hast du nichts von den Leuten in dem andern Boot gesehen?«
»Es ging alles so schnell, Herr Doktor. Als ich den Kopf hochbrachte, war das Motorboot schon heran und rammte im nächsten Augenblick die ›Céleste‹. Ich glaube zwar etwas gesehen zu haben, aber behaupten kann ich es nicht.«
»Ist auch nicht nötig. Sage mir nur genau, was du gesehen hast
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