Modesty Blaise 06: Die Lady macht Geschichten
verärgert. Warum, zum Teufel, hatte Modesty mitten in einem Gespräch über streng geheime Dinge einen wildfremden Ausländer herzitiert? Er vertraute restlos ihrem Urteil, aber – Warum hielt Jorgensen immer noch seine Hand und starrte ihn so merkwürdig an?
Jorgensen sagte mit Willies Stimme: «Sie sind zerstreut, Sir G.»
Tarrant hörte, wie Fraser einen verzückten Fluch ausstieß, und kämpfte hart, um seine eigene Überraschung zu verbergen. Ja, jetzt konnte er ihn sehen, wie man plötzlich in einem Suchrätsel ein Gesicht erkennt.
Die Verkleidung war relativ einfach. Die ausgezeichnete, unauffällige Perücke und die Einlagen, die die Form des Gesichts veränderten; doch das Wesentliche der verblüffenden Veränderung lag in Haltung, Bewegungen und Benehmen.
Tarrant sagte: «Hallo, Willie! Sie haben recht, ich war etwas zerstreut.»
«Wir fliegen von Schweden nach Ost-Berlin», sagte Modesty. «Willie ist Herr Jorgensen, der in Göteborg einen kleinen Laden mit Antiquitäten und seltenen Büchern besitzt. Ich bin seine Sekretärin. Ich kann Ihnen nicht zeigen, wie ich aussehen werde, weil ich zuerst mein Haar färben muß, aber ich werde ebenso überzeugend wirken.»
«Das glaube ich Ihnen aufs Wort.» Tarrant schüttelte langsam den Kopf. «Aber auch das genügt nicht, Modesty. Ausländische Geschäftsleute oder Besucher sind in Ostdeutschland automatisch suspekt, das wissen Sie. Man wird Sie beobachten. Vielleicht sind in den Zimmern Abhörgeräte, auf jeden Fall werden die Pässe streng kontrolliert. Sie werden damit nicht durchkommen.»
«Wir kommen seit fünf Jahren damit durch», sagte Willie mit seiner etwas gezierten Jorgensen-Stimme und zog ein Päckchen schwedischer Zigaretten aus der Tasche. Tarrant sah Modesty fragend an. Sie sagte: «Seit fünf Jahren machen wir jedes Jahr von Schweden aus eine zehn- bis zwölftägige Reise nach Ost-Berlin. Das Antiquitätengeschäft in Göteborg ist echt und gehört uns.»
«Um Himmels willen,
warum
machen Sie das?» erkundigte sich Fraser.
Sie zuckte die Achseln. «Wir begannen damit ein, zwei Jahre bevor wir die kriminelle Laufbahn aufgaben.
Es schien uns nützlich, zu wissen, was hinter dem Eisernen Vorhang vorgeht, und uns dort glaubhaft einzuführen. Wir machten weiter, weil es uns leid tat, die Sache aufzugeben. Die Ost-Berliner Polizei kennt Herrn Jorgensen und Fröken Oslund. Wir wurden beschattet und überwacht und höflich ausgefragt. Jetzt haben sie damit aufgehört. Das wissen wir, weil wir es immer wissen, wenn wir beobachtet werden. Vielleicht sind in unseren Zimmern immer noch Abhörgeräte.
Wir nehmen uns gar nicht die Mühe, das festzustellen, denn selbst wenn wir nichts finden, können bei der nächsten Rückkehr von einer unserer Reisen drei Abhörgeräte installiert sein. Also sprechen wir in unseren Zimmern bloß verschlüsselt.»
«Ihr unternehmt Abstecher?» fragte Tarrant. «Außerhalb von Ost-Berlin?»
«Ja. Wir annoncieren in ein paar Zeitungen, und die Leute, die uns etwas verkaufen wollen, rufen im Hotel an. Wir fahren hin, schauen uns die Sachen an und kaufen die Antiquitäten und Bücher, die uns preiswert erscheinen. Nicht nur in Berlin, sondern auch in Potsdam, Dresden und Frankfurt und in kleineren, Städten.
Wir machen saubere Geschäfte, zahlen bar in Kronen oder in Dollar und schicken die Gegenstände nach Göteborg. Niemand kann auf den Gedanken kommen, daß wir etwas anderes sind, als wir vorgeben.»
Zutiefst beeindruckt fragte Fraser: «Sie fahren tatsächlich jedes Jahr hin? Sie verbringen zehn Tage in Ostdeutschland, nur um Ihre Identität aufrechtzuerhalten?»
«Es ist nicht gerade lustig», erwiderte Modesty, «aber es erschien uns immer potentiell nützlich. Und jetzt tritt der Fall ein, wo wir es brauchen können. Das einzige, was die Leute vom Sicherheitsdienst dort vielleicht annehmen, ist, daß ich Willies Freundin bin und daß er mich auf die Geschäftsreisen mitnimmt, um fern von zu Hause seinen Spaß zu haben.» Sie lachte. «Das Abhörgerät wird ihnen keine Bestätigung dafür liefern.»
Willie zündete eine Zigarette an und goß sich einen Drink ein. Sein Gang und sein Benehmen waren immer noch auf Herrn Jorgensen abgestimmt. «Wir können in 36 Stunden dort sein», sagte er.
Tarrant rieb sich die Augen mit Fingern und Daumen und versuchte seine Gedanken zu ordnen. «Bleibt immer noch die Frage offen, wie ihr Okubo herausbekommt», sagte er langsam.
Er spürte eine Hand auf seinem Arm und
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