Modesty Blaise 11: Die Lady spannt den Bogen
bestand.
Die beiden standen jetzt dicht nebeneinander, der Kopf mit dem dunklen Haar fünf bis zehn Zentimeter höher als der honigblonde Schopf, die Arme leicht ineinander gehakt, und warteten mit dieser geistesabwesenden Geduld, die ihnen beiden gemeinsam war. Dinah hatte sie durch ihre Blindheit erlernt und Modesty während der Jahre ihrer Kindheit, in denen sie um ihr Überleben kämpfen mußte.
Das Mondlicht erhellte ihre Gesichter, und er sah, daß Modesty ein wenig die Stirn runzelte, als würde in ihr eine leichte Besorgnis aufsteigen. Nach einer Weile sagte sie unruhig: »Weng wird bestimmt furchtbar wütend sein, daß wir zu spät zum Essen kommen.«
Dinah nickte. »Daran habe ich auch gerade gedacht.«
Collier mußte loslachen.
»Er ist ein Steinenarr.«
»Ein was?« Tarrant besah sich den kleinen Gegenstand in seiner Hand langsam von allen Seiten. Der grüne Edelstein hatte einen Durchmesser von etwa drei Zentimetern. Er war zur Form eines Tigerkopfes zurechtgeschnitten und auf einer kleinen Kugel aus schwarzem Kunstharz befestigt, die unten abflachte.
»Ein Steinenarr«, wiederholte Lady Janet Gillam.
Wegen der langgezogenen Laute ihres schottischen Akzents hatte ihr Gesprächspartner sie kaum verstanden.
»Ist das einer dieser Millionäre, die sie und Willie vor Limbo gerettet haben?« wollte Tarrant wissen.
»Oh nein. Die Geschichte mit Ben Christie war lange davor. Das war der Mann von der amerikanischen Rauschgiftbehörde, den sie aus einer recht unangenehmen Lage befreit hat, als sie gerade das
Netz
auflöste. Kennen Sie die Geschichte?«
Tarrant sah sich im Salon um. Modesty stand mit Collier bei dem großen Fenster, das vom Boden bis zur Decke einen weiten Ausblick über den von einzelnen Lichtern funkelnden, größtenteils dunklen Hyde Park gewährte. Willie und Dinah saßen zusammen auf dem Sofa, er hörte ihr aufmerksam zu, während sie auf ihn einredete. Tarrant vermutete, daß er soeben eine etwas genauere Schilderung des Vorfalls mit dem Bogenschützen vor einigen Stunden erhielt. Als nämlich Modesty lange nach zehn Uhr mit ihren Freunden im Penthouse ankam, war Willie mit Lady Janet schon da, seiner ständigen Geliebten, die nicht weit von seinem Gasthaus am Themseufer in Berkshire einen Bauernhof hatte. Und es war Collier gewesen, der die Geschichte von dem Überfall auf dem Parkplatz erzählte, wobei er eine gehörige Portion seines Humors mit einfließen ließ, um den Ernst des Zwischenfalls herunterzuspielen. Tarrant hatte Modesty im Verdacht, daß sie ihn dazu aufgefordert hatte, damit Janet sich keine Sorgen machte.
Weng war ein wenig besänftigt worden. Das Abendessen lag hinter ihnen, und es war jetzt halb eins.
Die Colliers würden über Nacht bleiben. Willie würde Janet zurück zur
Treadmill
oder auf ihren Bauernhof fahren und Tarrant auf dem Weg bei seiner Londoner Wohnung absetzen. Lady Janet war die Tochter eines schottischen Landgrafen, aber Tarrant schätzte sie aus einem ganz anderen Grund hoch ein. Sie war zusammen mit ihm im Château Lancieux während der letzten Tage seiner Folterung dort gefangen gewesen, und er wußte noch sehr genau, wie gut sie trotz der Schmerzen und eines scheinbar sicheren Todes reagiert hatte.
Sie saß auf der breiten Lehne seines Ledersessels, um ihm das geschliffene Schmuckstück aus Peridot zu zeigen, und er antwortete nun auf ihre Frage: »Nein, die Geschichte mit Ben Christie kenne ich nicht. Die beiden erzählen äußerst ungern.«
»Ja, ich weiß.« Sie schüttelte ihre kurzen kastanienbraunen Locken. »Ich hätte selbst auch nichts davon mitbekommen, wenn ich den Mann nicht persönlich getroffen hätte, als er letzten Sommer ein paar Wochen in London war. Da hat er es mir erzählt.«
Am Fenster stand Collier mit einem Glas Brandy in der Hand und sagte gerade mit leiser Stimme: »Du kannst wirklich damit aufhören, mich zu beruhigen, mein Engel. Ich bin mit dir zusammen schon in ein paar ziemlich haarige Situationen hineingeraten, meist aus Versehen und ohne daß ich dir nützlich war, aber ich bin mit dabei gewesen. Und Dinah ebenfalls, und wir haben dabei einige Dinge gelernt. Einen Mord zu begehen ist relativ einfach, sogar wenn du das Opfer bist, denn der Mörder kann sich den Zeitpunkt und den Tatort und die Methode selbst aussuchen. Dieser Robin Hood heute abend hat dich nur ganz knapp verfehlt. Ein Scharfschütze mit einem Zielfernrohr könnte dich dreimal am Tag ohne Schwierigkeiten umlegen, außer du fängst jetzt
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