Modesty Blaise 11: Die Lady spannt den Bogen
»Willie hatte daran gedacht, den Mann besonders zu bewachen, aber ich habe nicht geglaubt, daß die Polizei damit einverstanden gewesen wäre.«
Tarrant stimmte ihr zu: »Da bin ich auch ganz sicher. Wieso hast du das geahnt, Willie?«
»Ach, nur so ein Verdacht.« Willie beobachtete Modesty, die neben Dinah Platz genommen hatte und nun ihre Hand hielt. »Wenn es ein Killerauftrag war, dann würden die Auftraggeber eventuell jemanden in der Nähe haben, der die Ausführung überwacht. Und wenn der Killer von der Polizei abgeführt wird, könnten sie auf den Gedanken kommen, ihn am Plaudern zu hindern. Sieht ganz so aus, als hätten sie es auch so gemacht.«
»Sie?«
Willie zuckte die Achseln.
Collier fragte mit dünner, verärgerter Stimme: »Wie in aller Welt konnte die Polizei es zulassen, daß der Mann auf dem eigenen Revier ermordet wird?«
»Es war ein Mann, der vorgegeben hat, von der Spezialtruppe auf Anforderung meiner Abteilung zu kommen«, erklärte Tarrant. »Er hat einen scheinbar echten Dienstausweis vorgezeigt und darum gebeten, daß der Gefangene ihm in ein Verhörzimmer zur Befragung gebracht wird. Ein uniformierter Polizist blieb mit im Zimmer. Beinahe sofort bei Beginn des Verhörs schien der Gefangene eine Art Anfall zu bekommen und fiel in Ohnmacht. Dann wurde ein Arzt gerufen. Der ist zehn Minuten später auch gekommen und hat den Mann für tot erklärt. Die Todesursache war anscheinend irgendeine Art Gift, das mit Hilfe eines sehr kleinen Pfeils in den Körper gebracht wurde; der Pfeil hat im Nacken des Gefangenen gesteckt.
Und der Mann der Spezialtruppe ist irgendwann während der ärztlichen Untersuchung still und heimlich verschwunden. Der Inspektor hat dann in meiner Abteilung angerufen, und dort haben sie ihm natürlich gesagt, daß wir niemanden von der Spezialtruppe angefordert hatten.«
»Das klingt nach Profiarbeit«, bemerkte Modesty.
»Die müssen schon völlig darauf vorbereitet gewesen sein, den Mann abzuservieren, falls er sich fassen lassen würde.«
»Mit einem Pfeil?« fragte Collier ungläubig. »Du meinst, da kommt so ein fünfundsiebzig Zentimeter großer Pygmäe im Lendenschurz herein, mit schweren Stiefeln, Melone auf dem Kopf und in der Hand ein ein Meter langes Blasrohr, sagt einfach, er wäre von der Spezialtruppe, und unsere Hüter des Gesetzes springen alle auf und salutieren vor ihm? Das kommt doch nicht einmal in einem Zeichentrickfilm von Walt Disney vor?«
Modesty gelang es nicht, ihren Lachanfall völlig zurückzuhalten, und sofort ging er auf sie los: »Für dich mag es ja ganz lustig sein, hier zu sitzen und loszukichern, meine Süße, aber es ist verteufelt erschreckend für alle anderen hier, deren Nerven noch nicht ganz abgestumpft sind. Gerade hat mich Willie noch ein bißchen aufgeheitert, indem er mir erzählt hat, wie man aus dem Robin Hood der Southbank mit Leichtigkeit herausholen wird, wer die Bösewichter sind, die ihm den Auftrag gegeben haben, so daß sie alle verhaftet werden können, und im nächsten Augenblick platzt Sir Gerald in die Unterhaltung und fängt an, für einen Kranz für den Kerl zu sammeln. Und was willst
du
jetzt machen?«
Sie stand auf und ging zu ihm hinüber, tätschelte seinen Arm und gab ihm einen Kuß auf die Wange. »Er ist einfach süß, wenn er so wütet und tobt, stimmt’s, Dinah? Aber er übertreibt doch ein bißchen.«
»Hoffentlich tut er das wirklich«, meinte das blinde Mädchen besorgt. »Ich mache mir selber Sorgen, Modesty.«
Tarrant ging zu seinem Sessel und nahm seinen Brandy, den er dort abgestellt hatte. »Was immer es auch wert sein mag«, sagte er, »jedenfalls haben wir den Armbrustschützen identifiziert.«
Modesty sah ihn erstaunt an. »So schnell?«
»Glück gehabt. Ich habe schon vor einer Weile veranlaßt, daß ein Foto des Mannes so schnell wie möglich zu meinem diensthabenden Beamten geschickt wird. Es kam mit dem Boten um halb zwölf in Whitehall an, der Beamte hat es gleich an die Registratur-Abteilung weitergeleitet, und dort«, er warf Modesty einen Blick zu, »hatte zufällig Finch Nachtdienst.«
»Der Mann mit dem magischen Gedächtnis.«
»Genau. Anscheinend hat Finch einen Moment lang mit den Augen gezwinkert, wie er das immer tut, und ist dann direkt zu der Kartei mit den Verbrecherfotos rübergegangen. Der Mann hieß Hugo Gezelle, ein achtunddreißigjähriger Belgier mit mehreren Gewaltverbrechen auf dem Kerbholz. Außerdem ist bekannt, daß er in mindestens zwei
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