Modesty Blaise 11: Die Lady spannt den Bogen
waren, hatten seine Methoden die Neugier einer militärischen Untersuchungskommission erregt. Von den Ergebnissen der Untersuchung waren die Kommissionsmitglieder immerhin so schockiert, daß sie die Entscheidung fällten, in Zukunft auf die Dienste des Major Earl St. Maur lieber verzichten zu wollen, sogar in ihrer allerhärtesten Spezialtruppe. Er war dazu aufgefordert worden, seinen Abschied zu nehmen. Die zweite Möglichkeit wäre eine sofortige Entlassung gewesen, wofür es mehr als genug Gründe gegeben hätte.
»Es ist doch zu schade, daß dieser Belgier bei seiner letzten Probeaktion gescheitert ist«, sagte St. Maur mit seiner näselnden, durchdringenden Stimme. »Er war recht vielversprechend. Was meinen Sie, warum hat er diese Blaise verfehlt?«
»Schwer zu sagen. Ich habe die Szene mit dem Nachtglas von der Brücke her beobachtet, und es kam mir so vor, als hätte sie sich im allerletzten Moment bewegt. Möglicherweise aus Instinkt.«
»Blödsinn. Er hat irgendein Geräusch gemacht, und sie hat sofort darauf reagiert.«
»Wie es auch gewesen sein mag, ich finde, Sie haben ihm eine zu schwere Aufgabe für seine Schlußprüfung gestellt. Sie ist schließlich ein Profi.«
»Ja, früher war sie das mal.«
»Sie ist es immer noch, wenn es zum Nahkampf kommt. Ich würde sie zu den sechs Menschen auf der Welt zählen, die am allerschwersten umzubringen sind.«
»Aber trotzdem möchten Sie es selbst einmal versuchen?«
Oberon lächelte. »Irgendwann, Major, irgendwann. Wenn wir Unternehmen
Morgenstern
abgeschlossen haben.«
»Sie hat Sie gestern abend nicht gesehen?«
»Nein. Und sie hätte mich ohnehin nicht erkannt.
Ich würde sagen, sie hat mich während meiner Zeit beim
Netz
insgesamt nicht länger als ein paar Minuten gesehen, und gestern abend habe ich einen Bart getragen, weil ich darauf vorbereitet war, in einer Feuerwehraktion schnell einzugreifen und den Belgier aus dem Verkehr zu ziehen, wenn nötig. Und nötig war es auch.«
»Was haben Sie dabei benutzt?«
»Einen Dienstausweis der Spezialtruppe und eins von Golitsyns Kinkerlitzchen. Eine ausgehöhlte Zigarette, über Federkatapult mit einem Blasenpfeil geladen. Die Blase am Pfeil wird beim Eindringen in die Haut zusammengepreßt und quetscht damit das Gift in die Blutbahn.«
»Curare?«
»Nein. Die zerstreuten Professoren, von denen Golitsyn seine Scherzartikel immer bekommt, haben irgendeine Möglichkeit gefunden, ein bestimmtes Herzgift aus der Seewespe zu gewinnen, so hat er es mir jedenfalls erzählt.«
St. Maur drehte den Kopf und warf Oberon einen eiskalten Blick zu. »Seewespe? Dieser verrückte Kerl hat Ihnen wohl einen Bären aufbinden wollen.« Oberon grinste. »Nein, das ist ausnahmsweise mal nicht sein eigenartiger Humor. Ich habe mich informiert. Seewespen sind keine Insekten, sondern eine Quallenart, die irgendwo vor der australischen Küste im Korallenmeer treibt. Die Viecher können einen ausgewachsenen Mann mit einem einzigen Stich innerhalb einer Minute töten.«
Sie hatten inzwischen die Buche erreicht, die in einer Ecke der von Hecken umsäumten Wiese stand. Die Rinde des Baumes war in der Gegend des weißen Farbkreises völlig zersplittert und über und über von kleinen Kerben durchzogen. St. Maur zog den Pfeil aus dem Stamm, untersuchte den Schaft und die Befiederung und blickte dann den Abhang hinauf zum Rand eines kleinen Wäldchens, wo ein Strohballen hochkant gegen einen niedrigen Erdwall aufgestellt war.
Es war nicht das erste Mal, daß Oberon diesen Rundgang auf dem großen Pfeil-und-Bogen-Übungsplatz mit achtzehn Zielen machte, den sich St. Maur im privaten Teil seiner Ländereien hatte anlegen lassen. Er wartete schweigend ab, während sein Gefährte den Pfeil wieder einlegte, anvisierte und abschoß. Als sie sich wieder in Bewegung setzten, um den langen, grasbewachsenen Hang hinaufzusteigen, sagte St. Maur:
»Übrigens haben wir diese Blaise dabei auch getestet. Golitsyn meint, sie würde einen erstklassigen Rekruten abgeben.« Oberon spürte, wie ihn die Wut packte, aber er beherrschte sich und ging schweigend weiter, bis er seine Stimme unter Kontrolle hatte. Dann antwortete er:
»Ich bin nicht dieser Meinung, aber nicht deswegen, weil sie eine Frau ist, oder weil ich hoffe, sie eines Tages zu töten. Wieviel weiß er über sie?«
»Eine ganze Menge. Seine Leute haben beachtlich viele Unterlagen über sie zusammengestellt, als sie noch gearbeitet hat, und Golitsyn selbst hat einmal mit
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