Modesty Blaise 11: Die Lady spannt den Bogen
wir beide nächste Woche wieder im Stützpunkt sind. Außerdem habe ich noch eine zusätzliche Aufgabe für Sie: ich möchte, daß Sie eine mögliche Neuanwerbung überprüfen, während Sie in den Staaten sind. Wir werden mit dem neuen Mann ein Treffen in San Francisco vereinbaren, und falls Sie der Ansicht sind, daß er brauchbares Material ist, können Sie ja einen Mohs-Test ersten Grades mit ihm machen.«
Oberon nickte. In der Technik dient die Mohs-Skala zur Bestimmung der relativen Härte von Schleifmitteln. Bei den
Watchmen
wurde dieser Ausdruck für einen Test gebraucht, mit dem eine bestimmte Fähigkeit von eventuellen neuen Mitgliedern gemessen wurde. Weitere Tests auf Geschicklichkeit und andere Fertigkeiten folgten dem Mohs-Test.
»Lassen Sie ihn eine Frau umbringen«, sagte St. Maur. »Oder ein Kind.«
»Was hat der Mann für einen Hintergrund?« fragte Oberon.
»Er ist Sergeant in der US-Army gewesen. Kriegsgefangener in Vietnam. Achtzehn Monate lang in einem Lager festgehalten worden. Zur ideologischen Umerziehung. Hat bei seiner Flucht zwei Wachen getötet, und es dauerte sechs Wochen, bis er die eigenen Linien erreicht hat. Hätte ein Held werden können, aber die Erfahrung in dem Gefangenenlager hatte ihn verbittert. Warum, zum Teufel, konnte sein dreckiges, verweichlichtes Vaterland nicht einfach eine Atombombe auf diese Schlitzaugen schmeißen und damit der Sache ein für allemal ein Ende machen? Weil Amerika nur noch aus einem Haufen Schlappschwänzen besteht, darum nicht. Und so weiter. Er hat seitdem zweimal Ärger mit dem Gesetz bekommen, einmal wegen tätlicher Bedrohung, das andere Mal wegen eines bewaffneten Raubüberfalls. Dann hat er sein Köpfchen benutzt und ist als Eintreiber und Killer zu einer Organisation in Los Angeles gegangen, aber das ging auch nur zwei Jahre gut. Sie haben ihn rausgeworfen, als er einen Mann umgelegt hat, den er eigentlich nur einschüchtern sollte. Anscheinend hat ihn das auch ziemlich verbittert. Von Krankin hat ein paar Verbindungsmänner in den Vereinten Nationen, und einer von denen hat ihn uns empfohlen.«
»Das klingt ja vielversprechend«, meinte Oberon.
»Aber werden wir denn überhaupt noch weiter Rekruten anwerben, so kurz vor
Morgenstern
?«
»Auch nach
Morgenstern
wird es eine Menge zu tun geben«, sagte St. Maur. »Es ist ein Programm auf zehn Jahre, und die
Watchmen
werden dabei dringend gebraucht werden.«
»Das ist mir bis jetzt noch gar nicht so klar gewesen …«
»Wir haben uns zwar in erster Linie auf Unternehmen
Morgenstern
konzentriert, aber es liegt doch auf der Hand, daß das nur der Anfang sein wird.«
Wieder ging Oberon Golitsyn durch den Kopf, der ihm eines Abends, als sie beide nach Sonnenuntergang über das vom aufspritzenden Seewasser ganz nasse Stahldeck spaziert waren, in der für ihn typischen Mischung aus Knurren und Kichern erklärt hatte:
»Schießkriege sind doch völlig aus der Mode, mein kleiner Soldat. Heutzutage macht man das anders. Zwanzig Mann unter dem richtigen Anführer, die zur richtigen Zeit am richtigen Ort die richtige Aktion unternehmen, können mehr ausrichten als eine ganze Armee. Es sind schon mehr Menschen durch den Stachel eines Moskitos gestorben als durch Bomben. Also stechen wir immer wieder zu, verstehen Sie? Bis jetzt haben wir immer nur zur Ablenkung gestochen, um Verwirrung zu stiften, aber es werden noch andere Ziele kommen. Zum Glück haben die Amerikaner unser Arbeitsprinzip noch nicht erfaßt. Sie würden es wesentlich wirkungsvoller in die Tat umsetzen als wir. Und wenn ich ›wir‹ sage, dann meine ich nicht uns, mein kleiner Soldat. Ich spreche von unseren Geldgebern.«
Es folgte ein Zucken seiner mächtigen Schultern. »Sie glauben ja gar nicht, wie ich darum kämpfen mußte, daß eine so billige und dabei so nutzbringende Unternehmung wie unsere hier in Gang kommen konnte. Ich kann Ihnen sagen, es gibt ein paar mächtig dumme Großmäuler in Moskau.«
St. Maur zog den Pfeil aus dem riesigen, verfaulten Baumstumpf, der im Schatten der hohen Kastanien lag, und sagte: »Außerdem haben wir in letzter Zeit ein oder zwei Mann bei der Gefechtsausbildung verloren. Also geht das Anwerben weiter.«
»Sollten wir die Kämpfe ums Überleben und die Einzelduelle nicht so lange aufhören lassen?«
»Unter keinen Umständen. Die Männer
müssen
einfach ihr Leben im Training aufs Spiel setzen, sonst stehen sie während der tatsächlichen Aktion vor einer vollkommen neuen Situation, mit
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