Modesty Blaise 11: Die Lady spannt den Bogen
zehnminütigen Spaziergang zu dem Chinarestaurant auf der Grant Street, wo sie sich mit Kim Crozier verabredet hatte.
Es war ein Freitag. Sie hatte den ruhigen Vormittag in Sausalito genossen, dann den Nachmittag in San Francisco, und jetzt freute sie sich auf den Abend und auf das Wochenende, das vor ihr lag. Ihre Fähigkeit zum Genießen war sehr ausgeprägt, und ihre Neigungen waren äußerst unkompliziert. Als sie am Abend vorher angekommen war, hatte sie mit Willie Garvin telefoniert und von ihm erfahren, daß Tarrant das Opfer des Armbrustschützen hätte sein sollen und nicht sie; außerdem, daß auch ein zweiter Mordversuch gescheitert war und daß er fest davon überzeugt war, daß es keinen dritten geben würde. Er hatte bei dem Gespräch einen frei erfundenen Code benutzt und über das Telefon keine Einzelheiten erwähnt, aber das kümmerte sie nicht. Wenn Willie sagte, daß Tarrant in Sicherheit war, dann konnte sie die Angelegenheit vergessen.
Als sie an der Kreuzung Grant Street/Sacramento Street kurz stehenblieb, um sich ein Schaufenster anzusehen, fuhr hinter ihr ein Taxi mit zwei Fahrgästen auf dem Rücksitz vorbei. Beide Männer hätten sie sofort erkannt, wenn sie ihr Gesicht gesehen hätten. Der Bärtige jedoch blickte in diesem Moment gerade auf seine Uhr. Dem anderen schoß der Gedanke durch den Kopf, daß die Frau, an der sie gerade vorbeigefahren waren, von hinten ein bißchen wie Modesty Blaise aussah, aber dieser Eindruck dauerte nicht länger als den Bruchteil einer Sekunde, denn Ben Christie hatte gerade einen CIA-Auftrag zu erledigen und deshalb wirklich wichtigere Dinge im Kopf als die zufällige Ähnlichkeit einer Passantin.
Das Taxi erreichte das Restaurant
The Grasshopper
vor Modesty Blaise, und als sie fünf Minuten später den Raum betrat, hatten die beiden Männer schon in einer der hinteren Nischen Platz genommen, so daß sie sie nicht bemerkte.
Kim Crozier hatte von seinem Platz aus den Eingang im Blick, so daß er Modesty gleich sah, als sie zwei Minuten vor sechs hereinkam, und seine Freude über das Wiedersehen mit ihr beseitigte sofort die Beunruhigung, die er kurz vorher noch empfunden hatte, während die Verabredung immer näher gerückt war. Sie trug flache Schuhe und eine Bluse mit einem Muster aus winzigkleinen blauen und weißen Karos, die in einem schlichten grauen Rock steckte. Ihre Handtasche baumelte an einem langen Riemen von der Schulter.
Das schwarze Haar glänzte, ihre Augen leuchteten hell und lächelten gern, und es war eine Freude, ihren Bewegungen zu folgen. Als sie damals auf die Plantage namens Limbo gebracht worden war, hatte Dr. Kimberley Crozier die Aufgabe gehabt, sie als neue Sklavin einer rigorosen medizinischen Untersuchung zu unterziehen. Noch heute war er der festen Überzeugung, daß sie die gesündeste Patientin war, die er jemals untersucht hatte.
Es war schön, sie wiederzusehen, sehr schön, trotz dieser nagenden Unruhe, die ihn befallen hatte. Sie strahlte ihn an, als er auf sie zukam, und wieder einmal mußte er darüber staunen, daß sie ihm in seiner Erinnerung immer größer vorkam, als sie in Wirklichkeit war.
»Kim. Du siehst genauso gut wie immer aus.«
»Aber das wollte ich doch gerade sagen.« Er gab ihr einen Kuß, nickte dem wartenden Oberkellner zu und nahm ihren Arm, um sie an einen Tisch am Rande des Restaurants zu führen. »Ein Mineralwasser?«
»Ja, gern.«
Sie saßen sich gegenüber und lächelten einander an, erneuerten ihren optischen Eindruck voneinander, berichtigten die kleinen Streiche, die einem die Erinnerung spielt. Nach einer Weile fragte sie ihn: »Wie geht deine Arbeit voran, Kim?«
»Ganz gut. Ich habe zwei Tage in der Woche Dienst im Krankenhaus, die anderen Tage arbeite ich in meiner Praxis. Heute ist eigentlich ein Krankenhaus-Tag, aber ich habe jemanden, der mich vertritt.«
»Schön, daß alles gut läuft. Hörst du noch manchmal von deinen Patienten in Limbo?«
»Ja, von ziemlich vielen. Familie Schulz schickt ab und zu mal eine Postkarte, und Stavros schreibt mir gelegentlich einen Brief. Valdez auch, und der hat mir außerdem noch etwas zu Weihnachten geschenkt. Einen Aston Martin.« Das Gesicht des gutaussehenden Schwarzen verzog sich zu einem belustigten Ausdruck der gespielten Verzweiflung. »Und das war noch ganz unabhängig davon, daß Stavros und Valdez und Marker zusammengelegt haben und mir meine schöne Praxis gekauft haben. Was soll einer da noch sagen?«
»Du hast sie am Leben
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