Modesty Blaise 11: Die Lady spannt den Bogen
eigene Zukunft verspürten, denn von den drei Männern besaß er allein einen Sinn für Humor, und dadurch war bei ihm die Entwicklung einer diktatorischen Persönlichkeit verhindert worden. Im Herzen war er eine Spielernatur, und es war sein Ziel, die ganze Welt als sein Spielfeld zu benutzen. Dabei hatte seine Auffassung vom Spielen jedoch nicht das geringste mit Sport zu tun. Wenn Golitsyn einen Sinn für Humor hatte, so bedeutete das lediglich, daß er jemandem die Kehle durchschneiden und dabei kichern konnte, anstatt dabei besonders leidenschaftlich zu werden.
Nun nahm er die Pfeife aus dem Mund und sagte:
»Wir müssen Oberon die Anweisung geben, die Operation
Baystrike
vorzuverlegen. Wie spät ist es bei ihm jetzt?«
»Ungefähr zweiundzwanzig Uhr dreißig«, erwiderte St. Maur.
»Dann würde ich sagen, wir lassen Oberon die Brücke irgendwann innerhalb der nächsten anderthalb Stunden zerstören, und er soll den Zeitpunkt nach Belieben wählen, wenn gerade möglichst viel Verkehr auf der Brücke herrscht.«
»Es ist zwar nicht dasselbe wie der Berufsverkehr am Morgen«, sagte von Krankin, »aber es dürften trotzdem eine ganze Menge Autos zwischen elf Uhr und Mitternacht auf dem Heimweg sein.«
»Genügend«, stimmte ihm Earl St. Maur zu. »Eigentlich finde ich es sogar noch besser. Vielleicht fünfzig Autos statt fünfhundert. Ich habe immer das Gefühl gehabt, daß ein allzu großer Verlust an Menschenleben bei Unternehmen
Baystrike
die Amerikaner dazu bringen könnte, alle verfügbaren Mittel einzusetzen, um unsere Organisation zu sprengen.«
»Es ist die letzte Aktion der
Watchmen
bis September«, sagte Golitsyn, »also mußte es etwas Großes sein.
Aber so ist es noch immer groß genug. Wie lange dauert es, bis Oberon die Nachricht erreicht?«
»Sieben Minuten.« St. Maur wandte sich zur Tür.
»Es ist ja eine einfache Anweisung, deshalb können wir eine verschlüsselte Sprache statt des Zifferncodes verwenden.«
Golitsyn fügte hinzu: »Und er soll natürlich Christie und Blaise aus dem Weg schaffen.«
»Natürlich.«
Die Tür schloß sich hinter St. Maur, und von Krankin bemerkte: »Ich würde es nicht gerne sehen, wenn die Amerikaner alle verfügbaren Mittel einsetzen. Sie können ziemlich gut sein.«
»Inzwischen hat schon ein militärisches Ablenkungsmanöver in Afghanistan begonnen«, sagte Golitsyn. »Ein begrenzter Vorstoß über das Chagai-Gebirge nach Belutschistan hinein. Damit werden die Amerikaner vom Unternehmen
Baystrike
abgelenkt, und
Baystrike
wird sie von Belutschistan ablenken. So funktioniert das, Siegfried.«
Er sah wieder auf das Schachfeld und zog seinen Springer.
»Schach, und matt in vier Zügen«, sagte er.
Sie saß in der Offiziersmesse, die gefesselten Hände auf den Knien. Auf der Sitzbank war Blut, und Ben Christie lag zusammengesunken neben ihr, die Augen geschlossen, an der rechten Schulter ein provisorischer Verband aus einem blutverschmierten Handtuch. Sein Gesicht hatte die Farbe schmutziger Milch, und sie war sich nicht sicher, ob er überhaupt so weit bei Bewußtsein war, um den Ereignissen folgen zu können. Szabo hatte an der Tür Aufstellung genommen. Mit verschränkten Armen, den Colt griffbereit im Schulterhalfter, beobachtete er sie mit amüsiertem Gesichtsausdruck. Oberon lehnte sich halb gegen die Tischkante und betrachtete Modesty Blaise mit seinen stechenden grünen Augen, in denen der Haß wie eine winzige Flamme loderte.
»… Tja, und dann haben wir uns einen kleinen Streich mit Ben erlaubt«, sagte er gerade mit sanfter Stimme. »Wir haben so getan, als hätte ich im Restaurant nichts gemerkt, und ihn einen Mohs-Test ersten Grades machen lassen. Das ist ein Härtetest, Mam’selle.«
In diesem letzten Wort schwang Sarkasmus mit. »Und unser lieber Ben hat ja auch wirklich sein Bestes getan, um all die armen Leute auf der Brücke zu retten, hab ich recht, Ben?«
In ihrem Kopf liefen in diesem Moment Berechnungen der vielen verschiedenen, miteinander zusammenhängenden Faktoren ihrer gegenwärtigen Lage ab, ihr Gesichtsausdruck spiegelte jedoch nichts davon wider, und sie achtete darauf, daß ihr kein Wort von dem entging, was Oberon sagte. Ihre geistige Verfassung kannte weder Hoffnung noch Verzweiflung, sie schätzte nur ab und hielt sich bereit. Das genaue Zuhören war für sie selbstverständlich, denn Oberons Ansprache könnte Informationen enthalten, die vielleicht für sie nützlich waren, jetzt gleich oder nachher oder auch
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