Modesty Blaise 11: Die Lady spannt den Bogen
seinen Augen vielleicht die allergrößte Beleidigung gewesen.
Jetzt sah er auf seine Uhr und befahl: »Sieh doch mal nach, wieviel Verkehr auf der Brücke ist, Hans.« Der Blonde verließ den Raum, immer noch mit diesem ausdruckslosen Lächeln auf den Lippen. Oberon blickte Modesty an. »Sie werden gleich Zeugin davon werden, in welchem Umfang Hugh Oberon seine Aktionen jetzt durchführen kann. Sie dürfen zusehen, wie die Golden Gate Bridge ins Wasser fällt, Mam’selle.«
Seit ihrer Gefangennahme hatte sie sämtliche Emotionen ausgeschaltet, und als er nun anfing, über die Brücke, das große Trägerseil, die daran montierten Hohlladungen und die Auslösung der Explosion durch einen doppelten Funkimpuls zu reden, verwendete sie diese Auskünfte nur als weitere Daten in ihrer Einschätzung der Lage, genauso wie sie die Erwähnung von Tarrant und die Tatsache, daß sie Ben Christie hier lebendig, wenn auch übel zugerichtet, angetroffen hatte, in ihre Berechnungen mit einbezog. All diese Berechnungen hatten natürlich kein festes Resultat, sie ergaben lediglich mögliche Verfahrensweisen und die prozentuellen Chancen ihres Gelingens, wobei noch jede Menge unbekannte und für sie unauslotbare Faktoren eine Rolle spielen mochten.
Oberon spottete gerade über Ben Christie und irgendeine Art von Härtetest. Sagte er Mohs-Test? Der Begriff ergab für sie keinen Sinn, und sie stellte sich kurz die Frage, ob das etwas mit dem Schrecken zu tun haben konnte, den sie in Bens glasigen Augen gesehen hatte. Oberon sprach weiter: »… und auch wenn Sie Ben nicht hätten auffliegen lassen, er wäre meiner Meinung nach trotzdem nicht viel weiter als bis zu unserer ersten Abschirmung gekommen. Als wir ihn den Mohs-Test haben machen lassen, da gab er sich große Mühe, den harten Mann zu spielen, aber es war nicht sehr überzeugend. Und zwar hatten wir für ihn dieses kleine Negermädchen vorbereitet …«
Sie unterbrach ihn mit einem scheinbar unbeteiligten Einwand. »Sie sagen immer ›wir‹ und ›unser‹, Oberon. Für wen lassen Sie die Brücke eigentlich hochgehen?«
Zusätzliches Wissen. Vielleicht würde sie es mit in den Tod nehmen, aber dieser Gedanke war es nicht wert, ihn weiter zu verfolgen. Oberon musterte sie einen Moment lang und antwortete dann: »Sie haben es bei uns mit den
Watchmen
zu tun, und diese Aktion veranstalten wir im Namen der Kämpfer für die Freiheit Armeniens.«
Sie blickte durch ihn hindurch, und er setzte sein ursprüngliches Thema fort. »Wie ich gerade sagte, wir hatten also dieses Negermädchen hergebracht, eine Heroinsüchtige, und dann …«
Er brach ab, als die Tür sich öffnete und Hans hereinkam. »Etwa zwölf bis fünfzehn Autos pro Minute in beiden Richtungen. Ich glaube nicht, daß es noch mehr wird.«
»Das ist ja gar nicht so schlecht«, meinte Oberon.
»Wir machen es jetzt gleich.« Er ging in eine Ecke des Raumes, öffnete einen kleinen Koffer und nahm einen kleinen Stahlbehälter heraus. Indem er mit dem Kinn auf Modesty deutete, sagte er zu Szabo: »Bring die beiden mit rauf, und sei
besonders
vorsichtig bei der Frau da. Leg ihr eine Schlinge um den Hals.«
Zwei Minuten später stand sie unter einer Persenning auf dem Achterdeck, immer noch an Händen und Füßen gefesselt, um den Hals eine lose Schlinge gebunden. Seitlich von ihr stand Hans und hielt das andere Ende des Seils fest. In der anderen Hand hatte er eine Pistole, die er vor seinen Körper hielt, so daß der Lauf nach oben zeigte und auf ihren Kopf zielte. Er hatte wohlweislich eine Position eingenommen, die ihn außerhalb der Reichweite ihrer Arme brachte, selbst wenn sie nicht gefesselt gewesen wäre.
Szabo hatte Ben Christie aufgeweckt, indem er ihm einmal hart ins Gesicht geschlagen hatte, und ihn dann hinausgeschleppt, wobei er ihn an seinem gesunden Arm zog; Ben war mit weichen Knien mitgekommen, bis er gegen ein Schott gelehnt wurde. Im Licht der Deckslaterne unter der Persenning sah Modesty, wie er zusammenzubrechen drohte, dann fand er jedoch mit seinem gesunden Arm Halt an einem Rettungsring, der an dem Schott hinter ihm angebracht war, und konnte sich mit Mühe auf den Beinen halten. Sein Kopf hob sich, und er sah sich verwirrt um, aber sein Blick streifte sie ohne Reaktion.
Drei Meter neben ihr stand ein kleiner Tisch, Oberon nahm etwas aus dem Stahlbehälter und stellte es auf den Tisch, einen Kasten aus grauem Plastik, dreißig mal dreißig Zentimeter groß und zehn Zentimeter hoch, auf dem
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