Modesty Blaise 11: Die Lady spannt den Bogen
erst sehr viel später, falls sie überleben würde.
Zehn Minuten waren vergangen, seit die
Old Hickory
beigedreht hatte und die Gefangene von der Barkasse, an Händen und Füßen gefesselt, an Bord gebracht worden war. Perry hatte sie einem Mann von kräftiger Statur übergeben, den er Szabo nannte. Die beiden hatten kurz miteinander gesprochen, während Perrys Begleiter ihr den Lauf seines Revolvers in den Rücken bohrte. Sie konnte zwar nichts von der Unterhaltung verstehen, bemerkte aber in der Zwischenzeit, daß die
Old Hickory
mit einer sehr langen Antenne ausgerüstet war, die wahrscheinlich nach dem Verlassen der Bucht aufgerichtet worden war. Das ließ darauf schließen, daß man hier über Funk mit ziemlich weit entfernten Teilen der Welt in Verbindung stand.
Perry und der Mann, der sich Herb Ashton genannt hatte, stiegen wieder die Leiter hinunter und machten die Leinen los. Die Barkasse trieb ein Stück davon, dann wurde der Lärm ihrer Maschinen lauter, und Modesty Blaise stand an Bord des Kutters, jetzt mit Szabos Revolverlauf im Rücken, und sah dem weiß aufschäumenden Kielwasser des Schiffes nach, das nun mit halber Fahrt in einer sanften Kurve auf die Bucht zusteuerte.
»Los!« sagte Szabo und brachte sie in die Offiziersmesse. Dort war ein blonder Mann mit einem leeren Lächeln auf den Lippen gerade dabei, einen notdürftigen Verband auf einer schlimmen Wunde an Ben Christies Schulter zu erneuern. Der Verband sollte offenbar lediglich dazu dienen, das Blut zu stillen, damit es nicht überall hintropfte, und stellte keine richtige Erste-Hilfe-Maßnahme dar.
Ben war in einem Schockzustand, und sie wußte gar nicht, ob er sie überhaupt erkannte, als sein Blick an ihr vorbeiwanderte, denn seine halbgeschlossenen Augen blickten ins Leere, und in ihnen lag ein düsterer, gequälter Ausdruck, den unmöglich ein nur körperlicher Schmerz hervorgerufen haben konnte. Zwar wußte sie, daß seine Tarnung nun dahin war, aber es würde ihr auch keinen Vorteil verschaffen, ihre Bekanntschaft mit ihm jetzt zuzugeben, also blickte sie ihn ohne einen Gruß oder ein Zeichen des Wiedererkennens an und nahm neben ihm Platz, als es ihr befohlen wurde.
Der Blonde knotete noch ein Handtuch über den Fetzenverband, trat zurück und lehnte sich gegen das Schott. Weder er noch Szabo sprachen ein Wort. Zwei Minuten danach ging die Tür auf, und Oberon kam herein. In Gedanken stellte sie sich sein Gesicht ohne den Bart vor und bemerkte dabei, daß er sich darüber hinaus auch sonst ziemlich verändert hatte. In den drei Jahren hatte er die ungestüme Art abgelegt, die ihr bei ihm aufgefallen war, und eine andere Persönlichkeit entwickelt: reif, beherrscht und mit einer Ausstrahlung, die sie so sehr an den Tod erinnerte, daß sich die Härchen in ihrem Nacken wie bei einem Hund sofort aufrichteten.
»Sie sind uns heute abend von großem Nutzen gewesen, Mam’selle«, begrüßte er sie mit seinem weichen, kaum wahrnehmbaren irischen Akzent. »Möchten Sie mir vielleicht irgend etwas sagen?«
Sie warf einen Blick auf die Seite, als sie antwortete.
»Dieser Mann hier ist schwer verletzt. Ich würde ihm gern die Schulter besser verbinden.«
Szabo kicherte. Oberon setzte sich auf die Tischkante und sagte: »Das wird kaum nötig sein, da Sie alle beide recht bald tot sein werden. Genau wie Ihr Freund Tarrant übrigens, falls er es nicht bereits hinter sich hat. Für diese Aufgabe haben wir ein sehr zufriedenstellendes Abkommen mit den polnischen Zwillingen getroffen. Aber etwas möchte ich Ihnen doch noch zeigen, bevor Sie von uns gehen, Mam’selle.« Wieder trat das kaum merkbare rote Funkeln in seine Augen, und sie spürte, wieviel Mühe er sich gab, damit die Wut, die er in sich trug, seine Stimme nicht zittern ließ. In den Adern von Hugh Oberon floß spanischer Stolz, und ihr wurde nun bewußt, daß der für sie unerhebliche Vorfall damals, den sie zwar als kurze Störung empfunden, jedoch bald danach vergessen hatte, für ihn ein Erlebnis gewesen war, das sein Selbstbewußtsein enorm erschüttert hatte. Sie hatte ihn erniedrigt, indem sie ihn zunächst in Willie Garvins Hände gegeben hatte, der mit ihm ebenso beiläufig umgesprungen war wie mit einem lästigen Insekt, und dann noch einmal, indem sie ihn aus dem
Netz
entfernt hatte, ohne ihn zu bestrafen, zu verwarnen oder auch nur mit ihm zu sprechen. Daß er damals einen Arbeitslohn in bar ausbezahlt bekommen hatte, als das Schiff in Perth anlegte, das war in
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