Mönchsgesang
Weile beobachteten die Erwachsenen die Kleine bei ihrer inbrünstigen Pflege. Plötzlich vernahmen sie draußen hastiges Hufgetrampel. Pferde schnaubten. Mathäus sprang auf. »Da sind sie!«
»Wer?«, fragte Dreyling.
»Dietrich und Meister Cornelius!«
Wie ein blasser Stern zwängte die Sonne sich durch die Wolkenbänder und tauchte den feuchten Herbstwald in ein erhabenes buntes Licht. Obwohl kaum ein Windhauch in der kühlen Luft lag, knarrten die Äste eines morschen Eichbaums leise vor sich hin. Irgendwo, hinter ein paar wilden Holundersträuchern, bellte ein Fuchs.
Chlodwig spitzte die Ohren.
»Lass ihn«, winkte Heinrich ab. Er betrachtete die Gemäuer des Klosters, denen die Sonne einen matten Glanz verlieh. Seine Gedanken kreisten unaufhörlich um die These, die er aufgestellt, nein, die ihn regelrecht heimgesucht hatte. Er hatte sich zu diesem Spaziergang entschlossen, um seinem Denken die kühle Frische des herbstlichen Spätnachmittags zugute kommen zu lassen. Sein Hund begleitete ihn gelangweilt.
Plötzlich, aus heiterem Himmel und ohne dass er etwas dagegen hätte tun können, überfiel ihn wieder die Erinnerung an jenen unheilvollen Sommertag. Dieser lag nun mehr als elf Jahre zurück, doch das Bild vor seinen Augen war so klar, als wäre alles eben erst geschehen.
Sein rechter Arm, der Schwertarm, zuckte nervös. Mit diesem hatte er das Mädchen, das ihn im Nachhinein so sehr an die kleine Maria erinnerte, getötet. Eine einzige Bewegung seines Armes hatte sein Leben verändert. Nicht nur sein Leben, die ganze Welt hatte sich verändert seitdem. Zumindest glaubte er das in solchen Augenblicken.
Chlodwig spürte, wie das Gemüt seines Herrn sich zu verfinstern begann. Er kannte diese Anfälle von Schwermut, und er wusste, was dagegen zu tun war. Mit seiner riesigen schwarzen Schnauze stupste er Heinrich an, so dass dieser beinahe das Gleichgewicht verlor. Das reichte aus, um ihn der Vergangenheit zu entreißen.
»Hast ja Recht, Chlodwig. Wir haben einen Mörder zu entlarven!«
Sie hörten die Klosterglocke, die die Mönche zur Vesper rief. »Nun gehen sie in die Kirche, um ihren Herrn zu preisen«, murmelte Heinrich tonlos. Da kam ihm ein Gedanke. Er stützte sein Kinn und sah zu seinem Hund herab. »Vielleicht sollte ich diese Gelegenheit nutzen, um mich in den Zellen der Brüder ein wenig umzusehen. Was hältst du davon?«
Ein unbeteiligtes Schmatzen war die Antwort.
»Also gut, du wartest hier. Bin gleich wieder da.« Mit diesen Worten verschwand Heinrich eilig, denn er wusste, dass er für sein Vorhaben nicht viel Zeit haben würde. Chlodwig blieb zurück und wunderte sich über die plötzliche Hast seines Herrn. Doch der hatte ihm schließlich befohlen, hier zu bleiben, also setzte er sich auf sein Hinterteil und äugte durch die Gegend. Wieder bellte in der Ferne ein Fuchs. Einen Augenblick lang war der Hund versucht, ihn aufzustöbern, aber die Trägheit obsiegte. Chlodwig ließ seine Pranken wie zwei Harken nach vorne rutschen, bis er vollends auf dem feuchten Waldboden lag. Nochmals inspizierte er mit halbherzigen Blicken die Gegend um sich herum. Dann bettete er seine Schnauze auf eine Pfote, blinzelte einige Male mit den Augen und wurde allmählich von einem sanften Schlaf eingeholt.
Die Schritte seines Herrn rissen ihn schließlich aus seinem Schlummer. Sofort sprang er hoch.
»Was sagst du nun, Chlodwig?« Heinrich war hörbar außer Puste. »In keiner Zelle etwas Verdächtiges gefunden – außer in einer!«
Die Dogge schaute zu ihm hoch und wedelte mit dem Schwanz.
»In einer Truhe, in der die Mönche ihre wenigen privaten Habseligkeiten aufbewahren, fand ich ein Hufeisen! Erinnerst du dich? Die Nacht, in der Bruder Adam starb? Der Novize hörte den Teufel, der ja bekanntlich einen Pferdefuß besitzt, laut und vernehmlich über den Flur stolzieren!
Aber das ist noch nicht alles. Außerdem befand sich in jener Truhe ein Paar lederner Handschuhstulpen von jener Art, wie Armbrustschützen sie verwenden! Und sicherlich brennst du darauf zu erfahren, in wessen Truhe ich diese Dinge fand.«
Chlodwig schüttelte sich den Dreck vom Leib und gähnte herzhaft, wobei er seine lange, gebogene Zunge präsentierte.
»Nun, ich will dich nicht zu sehr auf die Folter spannen«, fuhr Heinrich fort, obwohl es offensichtlich war, dass er eigentlich zu sich selbst sprach. »Ich fand diese Dinge in Bruder Engelberts Zelle!« Er ließ diese Worte eine Weile wirken und betrachtete
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