Hauptabteilungsleiter Forschung und Entwicklung. Die Werft hat ja die Wende nicht allzu lange überlebt, aber da ich noch einige Rentenpunkte sammeln musste, kam ich die letzten Arbeitsjahre bei einer kleinen Privatfirma unter, die sich auf Rettungsmittel spezialisiert hatte. Für mein Leben bedeutete die Wende keinen Absturz, nicht mal einen Knick.«
Lutze, der Quotenwessi des Kommissariats, platzte heraus: »Aber Sie mussten die Partei wechseln.«
»Sie meinen, dass ich als Hauptabteilungsleiter in der SED war? Gewesen sein muss?«
Lutze nickte.
»War ich auch. Aber ich musste die Partei nicht wechseln, sondern bloß austreten. Mir hat die Wende sehr viel gebracht, denn endlich konnte ich meine Neigungen leben. Nicht dass es in der DDR verboten gewesen wäre, aber man versteckte sich – vor allem, wenn man eine gewisse gesellschaftliche Position innehatte. Und heute? Ein schwuler Außenminister, die Bürgermeister von Berlin und Paris sind Homos, und sogar in einem Homophobien wie Italien ist Nichi Vendola Präsident der Region Apulien geworden.«
»Paradiesische Zustände«, murmelte Lutze.
»Falsch!«, sagte Besenbinder mit harter Stimme, und auch in seine Augen war ein harter Ausdruck getreten. »Das hat viele, viele Jahrzehnte Kampf gekostet, und das Eis ist dünn. Ich will offen sein. Manchmal denke ich: Was geschieht, wenn Deutschland aus der nächsten Finanzkrise nicht so glimpflich herauskommt? Wenn Menschen ohne Arbeit nicht mehr vom Staat gefüttert werden? Sie werden wie immer die Selbstverantwortung für ihr Schicksal delegieren und Feinde suchen. Sie werden wieder nach Konzentrationslagern schreien, für Türken, Muslime, Behinderte – und für Schwule!«
Barbara starrte auf den Bildschirm und wusste nicht, was sie von dem halten sollte, das sie sah: Eine E-Mail des Absenders
[email protected] nämlich, wobei das Kürzel vor dem At-Zeichen für Newsletter der Philosophischen Fakultät stand. Die Mail war an Hallo, Abonnenten unseres Newsletters gerichtet und gab einen weiteren Text wieder, dessen Absender
[email protected] lautete.
Auf Barbaras Bitte hin durchforstete Daniel Morbacher die Webseiten der Sicherheitsdirektion von Baselland, und nach einer Weile wussten sie, dass der Absender mit der dortigen Polizei nichts zu tun hatte, deren Mailadressen alle mit bl.ch endeten.
Der Text wirkte allerdings überzeugend. Er stellte kurz den Sachverhalt dar, erklärte, dass alle Indizien dafür sprächen, dass man die getötete Studentin an der Philosophischen Fakultät suchen müsse, und bat um Hinweise an eine Telefonnummer mit Schweizer Vorwahl. Unterzeichnet war das Schreiben mit Erni, Oberleutnant, Kantonspolizei Baselland .
Irgendjemand in der Redaktion des Newsletters hatte sich bemüßigt gefühlt, die Mail an die Abonnenten weiterzuleiten, und zwar als Sammelmail, die um 23:11 Uhr herausgegangen war.
Barbara verzichtete darauf, die Empfänger zu zählen, und sie beschlich das unbehagliche Gefühl, in diesem Fall noch öfter auf die Irrungen und Wirrungen des Internets zu treffen. Sie dankte Morbacher und trat dann in den Hausflur, um Lorbass Lutze anzurufen. Von ihm erhielt sie die Rufnummer der Oberleutnants aus Liestal, doch beide waren noch nicht im Dienst.
Als sie sich anschickte, in die Wohnung zurückzukehren, erschienen Wendel und Breithaupt auf dem Flur, beide etwas außer Atem, da die Spusi mit der Sperrung des Lifts auch für Führungskräfte keine Ausnahme machte. Der Kripochef und sein Stellvertreter, im Kommissariat als Der Mann ohne Eigenschaften und sein Kofferträger bekannt, wechselten ein paar Worte mit Helmich und Kurz, dann huschte Wendel weiter in Richtung des mutmaßlichen Tatortes. Breithaupt ging auf Barbara zu und wünschte, orientiert zu werden. Also orientierte sie ihn.
»Das mit diesem Newsletter ist ja seltsam«, meinte er wenig später.
»Finde ich auch.«
»Ich komme mit rein.«
Morbacher und Miriam Güntzel lagen nach wie vor relativ entspannt inmitten ihrer Kissengebirge und rauchten Selbstgedrehte. Da die Luft mittlerweile in Scheiben geschnitten werden konnte, bat Barbara darum, ein Fenster öffnen zu dürfen, was ihr gewährt wurde. Während sie es tat, stellte Breithaupt sich vor. Dann wollte er wissen: »Wer verantwortet eigentlich den Newsletter der Philosophischen Fakultät?«
»Also der Visdp ist Dr. Efron vom …«
»Bitte, wer?«
»Der Verantwortliche im Sinne des Pressegesetzes, kurz V.i.S.d.P. Dr. Efron ist Dozent