Moerder Im Gespensterwald
Beweismittel entfernt.
Nun war es kurz nach elf, und sie stand schwitzend in der Sankt-Georg-Straße vor einem Gebäude, das sie der Gründerzeit zuordnete: eine frisch sanierte, hellblau gestrichene Riesenvilla, deren Eingangsbereich gegenüber der übrigen Fassade hervortrat und von einem Dreiecksgiebel gekrönt wurde. Irgendwann einmal hatte ihr der Architektur-, Design-und Kunstkenner Uplegger erklärt, wie man solche vorspringenden Fassadenteile nannte; es war irgendetwas mit Rieseln.
Gleich nach der Sitzung war sie für eine Stippvisite in ihre Wohnung gefahren, um Kater Bruno zu füttern und ihm Insulin zu spritzen. Die obligatorische Viertelstunde dazwischen hatte sie für eine Schnelldusche genutzt, dann eine Weile vor ihrem mager bestückten Kleiderschrank gestanden und ein weites weißes T-Shirt und eine Lederjacke gewählt. Die Jacke war auf jeden Fall zu warm. Dafür passte in die beiden Innentaschen je ein Flachmann. Einen davon hatte sie bereits intus.
Sie berührte mit den Fingerspitzen den Schraubverschluss von Numero zwei, schüttelte dann aber den Kopf. Am schrecklichsten empfand sie, dass die Arbeit des Aktenhalters ein reiner Bürojob war. Sie würde Stunden, Tage, Wochen, vielleicht Monate nur am Schreibtisch verbringen. Das war wirklich eine Strafe, und sie wusste, warum Wendel sie ihr übergeholfen hatte: Er wollte sie zwingen, zu dieser gottverdammten Suchtberaterin zu gehen.
Die Sonne brannte. Barbara lief ein paar Schritte auf und ab. Die Villa beherbergte das Institut für Rechtsmedizin, und sie wartete auf Uplegger, der zum Campingplatz Markgrafenheide gefahren war. Natürlich hätte sie hineingehen und mit Geldschläger plaudern können, aber ihr stand nicht der Sinn danach; lieber hätte sie sich im Bett verkrochen.
Schließlich sah sie einen dunkelblauen Audi vom Leibnizplatz her kommen. Wenig später hielt das Fahrzeug. Uplegger stieg aus, um Elina Gundersen die Beifahrertür zu öffnen, denn er war nun einmal ein Gentleman. Barbara ging auf sie zu, reichte ihr die Hand. Sie war sehr blass.
»Frau Gundersen hat ihre Bereitschaft erklärt, ihre Angehörigen zu identifizieren«, erklärte Uplegger. »Sie meinte, es sei besser, wenn sie mitkäme, der Sprache wegen. Herr Gundersen ist bei Maj geblieben …«
»Sie hat ganze Nacht geweint«, sagte die Schwedin. Barbara nickte. Die Frau tat ihr leid, Maj tat ihr leid, aber das größte Mitleid hatte sie momentan mit sich selbst.
»Bitte!« Sie deutete zu dem gepflasterten Weg, der zwischen gepflegten Rasenflächen entlangführte. Zu dritt, die Zeugin in der Mitte, gingen sie auf den Haupteingang zu. Barbara wandte sich an Uplegger: »Wie heißt noch mal so ein vorspringendes Architekturelement?«
»Risalit. Und wenn er sich in der Mitte des Gebäudes befindet: Mittelrisalit.«
»Aha.«
Dr. Geldschläger, Oberarzt der Forensischen Pathologie , empfing sie in seinem Arbeitszimmer. Er drückte Elina Gundersen lange die Hand, dann schlüpfte er in einen weißen Kittel und ging voraus. Nach einigen Metern klopfte er an eine Tür, neben der ein kleiner Wechselrahmen angebracht war. Bereich For. Path., stand dort, Dr. med. Johanna Bittner, Dr. med. Uwe Karp, Assistenzärzte . Eine junge Frau erschien, die ebenfalls einen weißen Kittel trug. Geldschläger stellte sie vor; den Gesetzen der Logik folgend, handelte es sich um Dr. Bittner. Dann ging es in den Sektionsbereich. Vor dessen Tür begann Frau Gundersen zu schwanken.
Uplegger und Dr. Bittner stützten sie. Geldschläger wartete eine Weile, bevor er die Tür öffnete.
»Nej, nej, jag kan inte! Ich … kann nicht! Bitte!«
»Wir brauchen jemanden, der die Opfer identifiziert«, sagte Uplegger leise und eindringlich.
»Ja, ich weiß. Aber … diese Tische!«
»Oh, ich verstehe.« Geldschläger stand in der geöffneten Tür. »Unsere Arbeitstische kennt ja mittlerweile jeder Fernsehzuschauer. Frau Gundersen, keine Sorge, Sie bekommen weder die Tische noch die Instrumente zu sehen. Den Sektionssaal dürfen nur unsere Leute und ausgewählte Mitarbeiter der Polizei und der Justiz betreten. Wir gehen bloß in den Lei… in den Annahmeraum. Der sieht fast so aus wie ein normales Arztzimmer.«
»Okay.« Elina Gundersen öffnete ihren kleinen Stadtrucksack, entnahm ihm ein Stofftaschentuch und schnäuzte sich. Dann gab sie sich einen Ruck und folgte den Obduzenten. Uplegger und Barbara bildeten den Schluss des Zuges.
Der Leichenannahmeraum hätte höchstens auf einem arg
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