Mörder im Zug
verwaist. Aber man konnte ihn nicht täuschen, von überallher drohte Gefahr. Wenn der Feind ihn töten wollte, hatte er nun die beste Gelegenheit.
Wie sollte er von hier fortkommen? Ihm blieb nur der Zug, auch wenn er keine Fahrkarten kaufen konnte. Täuschte er sich nicht, war der Regionalexpress nach Hamburg ein Doppelstockzug; vielleicht würde er sich an den Kontrolleuren vorbeischleichen können? In der S-Bahn hatte er das schon gemacht. Dort wurde sowieso selten kontrolliert, doch wenn jemand mit Knipser an Bord war, konnte man ihn umgehen. Bisher hatte er das immer geschafft.
Er zog den Weltempfänger aus dem Mantel. Die Polizisten hatten ihn bestimmt für verrückt gehalten, aber glücklicherweise hatten sie ihn nicht nach Gehlsheim gebracht, wo man im Auftrag des Feindes aus gesunden Menschen Geisteskranke machte. Der Moderator war auch zu dieser Stunde völlig aus dem Häuschen, aber er würgte ihn sofort ab. Als er das Rauschen und Knistern vernahm, atmete er auf. Gleich würde er Anweisungen erhalten.
Doch das Weltforum schwieg.
Barbara warf einen Blick zur Leiche. Pentzien hatte das Feld dem Gerichtsmediziner überlassen und erteilte seinen Leuten Befehle. Nachdem sich die gesamte Mordkommission außer Breithaupt am Tatort eingefunden hatte, hielt Doktor Geldschläger einen kurzen Vortrag, in dem vor allem die Worte Ersteinschätzung , vorläufig und bis auf Weiteres vorkamen, was niemanden verwunderte. Am meisten vage war seine Schätzung des Todeszeitpunktes; von Todeszeitbestimmung sprachen die Rechtsmediziner schon lange nicht mehr. Erst als Uplegger mit einem gewissen Nachdruck fragte, entlockte er ihm ein »vor etwa fünf bis acht Stunden plus minus«. Für einen Mann von Geldschlägers Profession war das eine präzise Auskunft.
Die Mitarbeiter der MoKo schauten alle etwa gleichzeitig auf ihre Armbanduhren und kamen zweifellos zu einem identischen Ergebnis: Riccardo Medanauskas hatte den Todesschuss zwischen 17:37 und 20:37 erhalten, plus minus. Gunnar Wendel legte daher fest, dass man för‘t Eerste von einer Tatzeit zwischen 17 und 21 Uhr ausgehen solle. Geldschläger, der sich auf den Arm genommen fühlte, trollte sich schulterzuckend zu seinen rauchenden Gehilfen.
An der Identität des Opfers bestanden kaum noch Zweifel, da die Spusi eine Geldbörse gefunden hatte mit Führerschein, EC- und Kreditkarte sowie einem Ausweis des METRO-Großmarktes Hamburg-Harburg.
Manfred Pentzien richtete ein paar Worte an alle: »Ich bin noch nicht dazu gekommen, euch einen Bericht zu schreiben, also mache ich es mündlich. Die Nähe der Müllkippe inspiriert mich dazu. Wir sind mit dem Inhalt der Abfallbehälter im Zug fertig. Ich möchte vorläufig behaupten, dass wir nichts Relevantes gefunden haben. Das gilt auch für den abgepumpten Toilettentank. Da war neben dem, was man so erwartet, noch allerlei Leckeres drin, Zigarettenkippen, Tampons, Kondome samt Inhalt, sogar eine zusammengeknüllte Seite aus einem FKK-Spezial-Heftchen und passend dazu ein Schnuller, Gott sei Dank ohne das dazugehörige Baby …«
»Zyniker!«, schimpfte Ann-Kathrin Hölzel, die von einem Fuß auf den anderen trat und das Thema wechselte: »Ich kann mir nicht vorstellen, dass Riccardo freiwillig hier war. Die Medanauskas sind Gastronomen, die Mutter hat ein Modegeschäft, mit Müll haben sie doch nichts zu tun.«
»Vielleicht mit den seltsamen Fässern«, überlegte Barbara. »Wir fahren jedenfalls zu den Eltern, nicht wahr, Jonas?«
»Wenn kein anderer will …«
»Nee, nee, macht mal«, kam es aus mehreren Richtungen.
Barbara und Uplegger gingen in Richtung der abgestellten Fahrzeuge. Im Kastenwagen sahen sie Geldschläger, der etwas schrieb. Seine Gehilfen debattierten draußen rauchend und lautstark mit Tietze, der sich zu ihnen gesellt hatte. Gerade erklärte er, dass man sich in einem tiefen Tal wenden könne, wohin man wolle, es ginge immer nur aufwärts. Beide Gehilfen nickten eifrig. Man war sich einig: Hansa würde weiter aufsteigen.
Als die Kommissare ihren Wagen erreichten, trat Tietze auf sie zu.
»Es gibt etwas, das ich Ihnen vor den hohen Chefs nicht sagen wollte. Mit diesen Fässern stimmt was nicht.«
»Haben wir fast erwartet«, sagte Uplegger.
»Also …« Tietze schaute sich zum Kastenwagen um. »Dass wir den Fahrern nicht beim Entladen helfen, beruht auf einer mündlichen Anweisung. Herr Rauch vom GüVB-Aufsichtsrat hat sie mir persönlich erteilt. Gleich nach dem ersten Transport vor
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