Mörder im Zug
Stimme.
»Leider. Ein weiteres Verbrechen.«
Celerina begann zu heulen wie eine Sirene. Ihr Körper zuckte im Krämpfen, wobei sie sich immer noch an ihren Vater klammerte. Uplegger erhob sich, ging auf sie zu. Bevor er irgendein beruhigendes Wort sagen konnte, ließ Celerina von ihrem Vater ab und warf sich auf ihn. Sie trommelte mit den Fäusten gegen seine Brust. Uplegger ergriff ihre Hände, schob sie zur Couch und nötigte sie, Platz zu nehmen.
»Ich bring ihn um!«, schluchzte sie.
»Wen?«
»Den Mörder.«
»Wissen Sie denn, wer es ist?«
Sie schüttelte den Kopf. Ihr Vater setzte sich langsam neben sie und legte einen Arm um ihre Schulter.
»Papa, Papa«, stammelte sie. »Unser Finanzminister ist …« Die Stimme versagte ihr.
»Was hat er eigentlich gemacht – als Ihr Finanzminister?« Barbara beugte sich vor.
Für einen Sekundenbruchteil erschien ein zärtliches Lächeln auf Medanauskas’ Gesicht. »Alles mit Geld. Ganze deutsche Birokrātija. Kontoführung, Buchhaltung, Steuern … Finanzamt!«
»Für die Lokale oder auch für Ihre Frau?«
»Nein, Frau kann selber. Ist gut mit Geld. Ich nicht. Verstehe ich nicht: Abgabenordnung, Doppelsteuer … Wie heißt?«
»Doppelbesteuerungsabkommen.«
»Ja.«
»Aber das kommt für Sie gar nicht in Frage, oder? Sie haben doch keine Einnahme im Ausland?«
»Ich nicht verstehen«, sagte er.
»Wie wurde Riccardo umgebracht?«, fragte Celerina.
»Das darf ich Ihnen noch nicht sagen.« Barbara straffte den Oberkörper. »Wo bewahrte Riccardo die Finanzunterlagen auf?«
»Folgen Sie mir«, sagte Perviltas.
Riccardos Zimmer befand sich unter dem Dach. Es hatte zwei schräge Wände und machte schon auf den ersten Blick einen chaotischen Eindruck. Überall lagen Kleidungsstücke umher, über den Stühlen, auf dem Boden, auf dem ungemachten Bett. Der Teppich war seit Wochen nicht gesaugt worden, die Möbel, von dem Schreibtisch am Fenster abgesehen, bedeckte eine beachtliche Staubschicht. Mitten im Raum stand ein umgedrehtes Fahrrad, dessen Vorderrad abgeschraubt an der Wand lehnte. Daneben lagen auf einem ölverschmierten ausrangierten Bettlaken Schraubenschlüssel, ein Hammer, ein Klappmesser, Ventile und ein neuer Schlauch. Von einem Finanzminister hatte Barbara mehr Ordnungsliebe erwartet; umso gespannter war sie auf die Bücher. Auf jeden Fall stand dieses Zimmer in bemerkenswertem Gegensatz zur Reinlichkeit in den unteren Räumen.
Metallregale, die an der linken Wand bis zur Dachschräge reichten, enthielten die Ordner, deren Rücken mit Jahreszahlen und unverständlichen Kürzeln beschriftet waren. Barbara ließ es bei einem ersten Blick bewenden. Vom Schreibtisch allerdings wollte sie nicht lassen. Zuerst nahm sie die zuoberst liegenden Lieferantenrechnungen in Augenschein. Da sie kein frisches Paar Latexhandschuhe mehr dabeihatte, schob sie die Papiere mit ihrem Kugelschreiber auseinander und stellte fest, dass auch Rechnungen für La moda dazugehörten. Die einzelnen Posten waren sowohl in Italienisch als auch in Deutsch aufgeführt, wobei sich die Übersetzung durch das Fehlen von Umlauten auszeichnete. Aussteller der Rechnungen war die Firma Abbigliamento internazionale S.p. A., Zona industriale, Secondigliano, NA .
Barbara nahm ihr Taschentuch, um die Schubfächer zu öffnen. Das Chaos setzte sich fort. Diverse Unterlagen, Kabel für den PC, ein paar Fotos, die ihn als Jugendlichen mit Basecap und nacktem Oberkörper irgendwo an einem Strand zeigten, geküsst von mehreren Mädchen, eine offene Schachtel mit Stickern vom Meli-Club und vom LT , eine Blechdose mit Blättchen und ein bisschen Dope, und in der untersten Lade fanden sich eine Tauchbrille und ein einzelner Badeschuh. Etwas ordentlicher ging es im zweiten Schubfach von oben zu, in dem, neben anderen Papieren, zwei Mappen mit Kontoauszügen lagen. Vorsichtig schlug Barbara die Mappe mit dem Commerzbank – Logo auf und blätterte, so gut es mit dem Kugelschreiber ging. Schon auf dem zweiten Ausdruck fand sie etwas, das sie sofort innehalten ließ: Zwei Bareinzahlungen im Laufe einer Woche, eine über 14.500, eine über 13.000 Euro. Es sah ganz danach aus, als hätte Ricardo das Geldwäschegesetz gekannt.
In dem Haus, in dem sich soeben der zweite Akt einer Familientragödie abgespielt hatte, war es still wie in einem Grab. Barbara versiegelte das Zimmer, dann stieg sie die Treppe hinunter. Im zweiten Stockwerk ging eine Tür auf, und Lukrecija Medanauskas schwankte barfuß und im
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