Mörderische Ärzte: der hippokratische Verrat
haben.
Gegen Ende der Verhandlung kamen nochmals die naturwissenschaftlichen Sachverständigen zu Wort. In mehrfachen Gutachten setzten sie sich mit den Argumenten der Verteidigung auseinander. So hatte die Verteidigung Prof. Kühners Strophantin-Nachweis in Frage gestellt, weil er das Gift nicht chemisch, sondern nur in Form eines Extrakts im Tierversuch nachgewiesen hatte.
Prof. Kühner erwiderte darauf: »Strophantin als solches (in Substanz) ist in den Leichenteilen der Frau M. nicht nachgewiesen worden. Das ist auch weiter gar nicht verwunderlich. Nehmen wir an, es sind in den Mastdarm fünfzig oder hundert Milligramm des Giftes eingeführt worden, so wurde von hier aus im Verlauf von dreieinhalb Stunden sicherlich ein großer Teil im Körper aufgenommen. Ein anderer Teil blieb im Darm zurück, und zwar vor allem in der Darmwand, die mir zur Untersuchung nicht mehr zur Verfügung stand, sondern die zur chemischen Prüfung der Gifte verbraucht worden war. Zum Nachweis von Strophantin verblieb nur der verhältnismäßig geringe Darminhalt. Berücksichtigt man nun noch die leichte Zersetzlichkeit des Strophantins, so muss es als durchaus befriedigendes Ergebnis angesehen werden, dass aus dem Dickdarminhalt Extrakte erhalten werden konnten, die mit den empfindlichen Proben des Tierversuches den Ausschlag gaben.«
Ferner wies Prof. Kühner auf die von den Zeugen und in den Kliniken beobachteten Symptome hin, die den Anzeichen einer tödlichen Verwundung durch Pfeilgift ähnelten. Diese sind, sagte Kühner, »die quälende Herzangst, die sich bei Frau M. in ihrer starken Erregung kundgab, der auf dem Transport nach der Nervenklinik beobachtete kalte Schweiß, ein richtiger Angstschweiß, und endlich der plötzliche Herzstillstand.«
Und was die tödliche Menge des Giftes betreffe, so habe sich Richter bekanntlich darüber in der Fachliteratur informiert und seine Schlussfolgerungen schriftlich niedergelegt.
Prof. Müller-Hess, der die Leiche obduziert hatte,
widerlegte ebenfalls verschiedene Einwände der Verteidigung. Diese hatte beispielsweise behauptet, die MastdarmSchleimhaut könne bei den Untersuchungen der Patientin mechanisch, bei den Einläufen durch chemischen oder thermischen Reiz verletzt worden sein. Müller-Hess bewies, dass solche Verletzungen anders aussähen als die durch ein Gift verursachte Verätzung. Auch die äußeren Verletzungen an der Leiche hätten gezeigt, dass eine starke Gewalteinwirkung stattgefunden habe. Und schließlich sei es für ein strophantinartiges Gift charakteristisch, dass dabei das Herz im systolischen, d. h. im Krampfzustand und blutlos stillstehe. Das sei bei Frau Mertens ebenso der Fall gewesen wie bei den Fröschen, denen der Extrakt aus dem Darminhalt der Toten injiziert worden war.
Müller-Hess erklärte abschließend, dass die Schuld des Angeklagten nicht allein durch die Gerichtsmediziner, sondern durch zahlreiche Indizien nachgewiesen worden sei. Trotzdem hätten die ärztlichen Beweismomente eine entscheidende Bedeutung: »Eine gesunde junge Frau ohne irgendwelche lebensgefährlichen krankhaften Abweichungen der inneren Organe erkrankte an dem kritischen 2. Dezember ganz plötzlich unter sicheren Vergiftungserscheinungen. Diese sind von zahlreichen Ärzten und Laien beobachtet worden. Sie selbst hatte ganz deutlich das Gefühl, vergiftet worden zu sein, und starb schließlich unter Symptomen, wie sie bei einem schweren tödlichen Herzgift aufzutreten pflegen. Irgendeine Erklärung, dass eine solche plötzliche Vergiftung auf andere Weise als auf eine Einführung von Gift in den Darm hätte eintreten können, hat sich durch die umfangreiche Beweiserhebung unter Hinzuziehung aller in Betracht kommenden Fachleute nicht aufdecken lassen. Es liegt deshalb... nicht der geringste Anlass vor, an der Annahme einer Strophantinvergiftung zu zweifeln.«
Auch die Geschworenen hegten keinen Zweifel an der
Schuld des Angeklagten. Dr. Richter wurde wegen Mordes zum Tode verurteilt.
Noch während der Verhandlung hatte Richter den Meineid im Scheidungsprozess Mertens eingestanden und sich damit noch zusätzlich belastet. Denn damit gab er selbst die starke intime Bindung an sein Opfer zu. Das Mordmotiv - die ständige Bedrohung durch die erpresserische Geliebte zu beseitigen - wurde dadurch überzeugend offenbar. Er, einst von »Amors Pfeil« getroffen, glaubte sich nur mit dem Giftpfeil befreien zu können.
Das Todesurteil wurde sehr unterschiedlich aufgenommen. Richter,
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