Mörderische Ärzte: der hippokratische Verrat
sollte er freigelassen werden. Da erkannte ein zufällig eintretender Richter in dem Verhafteten den Doktor und Sträfling Edward Ruloff. Aber dass Ruloff mehrmals vorbestraft war, war kein Beweis, dass er den Wächter erschossen hatte.
Man ließ ihn frei.
Ruloff hatte die Stadt schon verlassen, als einer der Sheriffs noch einmal das Paar Oxford-Schnürschuhe betrachtete, das am Tatort gefunden worden war. Wahrscheinlich hatte einer der Räuber die Schuhe ausgezogen, um ungehört in das Lager schleichen zu können. An einem dieser Schuhe, nämlich am linken, hatte man rechts vorn eine Ausbuchtung entdeckt, die man sich nicht erklären konnte. Aber dieser Sheriff erinnerte sich jetzt daran, dass Ruloff die große Zehe des linken Fußes fehlte. Sie war ihm erfroren und amputiert worden.
Sofort schickte der Sheriff seine Leute aus, um Ruloff zu suchen. Er wurde gefunden, musste die Schnürschuhe anziehen, sie passten genau. Ruloff blieb im Gewahrsam des
Staatsanwalts.
Im Januar 1871 begann der Prozess gegen Ruloff. Niemand sah ihm an, dass er viele Jahre seines Lebens in Gefängnissen verbracht hatte. Er hielt sich gut, seine Kleidung entsprach der Mode, seine Bewegungen waren abgerundet, seine Augen blickten klar.
Nach Auswahl der Geschworenen eröffnete der Staatsanwalt die Verhandlung. Er breitete die Vergangenheit des Angeklagten, soweit sie bekannt war, vor dem Gericht aus und beschuldigte Ruloff der Tötung des Wächters Mirrick.
Zu Beginn der Beweisaufnahme trug der überlebende Wächter die Ereignisse jener Nacht mit dramatischer Lebendigkeit vor, schilderte den Kampf mit den Einbrechern und erklärte schließlich, er sei überzeugt, dass Ruloff Mirrick erschossen habe. Beschwören könne er es jedoch nicht.
Dann wurde ein Papier vorgelegt, das man in der Tasche des ertrunkenen Dexter gefunden halle. Der Schriftsachverständige bezeugte, es trage die Handschrift Ruloffs.
Edward Jakob, Ruloff's Hauswirt, war sicher, die am Tatort gefundenen Oxford-Schuhe gehörten Ruloff. Jakob identifizierte auch den toten Jarvis als Ruloff's Zimmergenossen.
Zwei als Sachverständige hinzugezogene Schuhmacher bewiesen, dass die Wucherungen an Ruloffs linkem Fuß und die fehlende Zehe genau solche Eindrücke im Schuh verursachen würden wie an dem linken Oxford-Schuh.
Ein Zeuge bestätigte, dass Ruloff am Tage des Mordes in der Stadt gewesen sei.
Der Verteidiger konnte die Indizien gegen Ruloff nicht entkräften, in seinem Plädoyer hob er die Gelehrsamkeit und Bildung seines Klienten hervor und versuchte, Mitleid mit einem jahrzehntelang verfolgten, von Widerwärtigkeiten heimgesuchten alten Mann zu erwecken. Er kritisierte einige formaljuristische Fehler der Prozessführung, die keinen eindeutigen Schuldbeweis erbracht habe. Schlimmstenfalls sei die Tat als Notwehr gegen den auf die Einbrecher eindringenden Mirrick zu beurteilen.
Nach sechs Stunden Beratung verkündete der Obmann der Geschworenen: »Schuldig!«
Nach einem kurzen Schwächeanfall verließ Ruloff ruhig, fast gleichgültig den Gerichtssaal. Ebenso gefasst nahm er am nächsten Tag das Urteil des Richters auf: »Am 3. März am Halse aufgehängt zu werden, bis Sie tot sind. Gott sei Ihrer Seele gnädig!«
In den folgenden Wochen zwischen Urteil und Hinrichtung empfing Ruloff mehrere Besucher. Zwar wies er fromme Damen, die ihm religiösen Trost spenden wollten, ebenso wie Reporter ab. Aber hartnäckig suchte er Gespräche mit Wissenschaftlern, um sie von der Richtigkeit seiner Sprachtheorie zu überzeugen und sie zu überreden, sich für seine Begnadigung einzusetzen, damit er die Arbeit an seinem Lebenswerk vollenden könne.
Diese Arbeit unterbrach er nur dann, wenn er Gesuche an den Obersten Gerichtshof und Appelle an die Öffentlichkeit verfasste.
Aber das Oberste Gericht lehnte eine Revision ab.
Niemand zweifelte an Ruloffs Schuld, im Gegenteil, man war froh, Ruloff nun endlich auch für seine früheren Morde richten zu können. Einer der Richter soll geäußert haben: »Wir sollten ihn zuerst hängen und dann meinetwegen seinen Fall noch einmal erörtern.«
Nachdem Ruloff die endgültige Bestätigung seines Todesurteils erhalten halte, schien es ihm doch an der Zeit, einige seiner Verbrechen zu gestehen. Allerdings hatte er nicht den Mut zu einem öffentlichen Geständnis. Aber in stundenlangen Gesprächen mit Mr. Freeman, dem Verleger einer lokalen Zeitung, schilderte Ruloff sein Leben und seine Taten. Erst nach seinem Tode sollte Freeman den
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