Mörderische Aussichten
mitbekommen, dass hier ein internationaler
Flug angekommen wäre?«
»Vielleicht hat mal einer auf seinem Weg nach Atlanta hier haltgemacht, weil man ihn entführt hat oder so.«
»Ja, klar. Kannst du dir vorstellen, dass ein Entführer ins Cockpit platzt und den Piloten dazu zwingt, ihn nach Birmingham,
Alabama, zu bringen?«
»Es ist doch nett hier.«
»Stimmt«, pflichtete mir Schwesterherz bei. »Vielleicht entscheidet sich ja Ray zu bleiben.«
»Nachdem er seine angeheiratete Verwandtschaft kennengelernt hat? Träum weiter, Schwesterherz.«
»Sie sind nur ein wenig exzentrisch.«
Daran wollte ich keinesfalls rühren.
Ein paar Minuten später stand Mary Alice auf und trat ans Fenster. Just in diesem Moment kündigte eine Stimme aus der Sprechanlage
die Ankunft des Delta-Fluges 180 aus Atlanta an. Ich gesellte mich zu ihr, um zu verfolgen, wie das Flugzeug heranrollte.
Ray war der Erste auf der Gangway und marschierte direkt vor unserer Nase vorbei. Wir hatten den Hochzeitsfilm gesehen und
wussten, dass er einen Bart trug, waren aber nicht auf einen Wikinger gefasst. Wir warteten auf den Ray, der nach wie vor
unser jüngstes Kind war.
»Mama. Tante Pat.« Er stand hinter uns, mindestens zwanzig Kilo schwerer als früher, und grinste uns durch einen goldblonden
Haarwald an. »Ihr habt mich nicht erkannt.«
Mary Alice griff sich an die Brust. »Mein Gott.« Ray umarmte sie, hob sie fast vom Boden, während er mich beinahe über seine
Schulter warf. Dann gab er uns beiden einen dicken Kuss, der – angesichts all der Haare – überraschenderweise ganz nach dem
alten Ray schmeckte.
»Geht’s euch allen gut?« Er blickte sich um. »Sunshine ist nicht hier?«
»Wir haben nichts weiter von ihr gehört«, sagte Schwesterherz und ließ sich ein weiteres Mal umarmen. »Na, mein Schatz, wie
war dein Flug?«
»Lang.« Er winkte über unsere Schultern hinweg jemandem zu, und wir sahen einen großen, bärtigen Mann auf uns zukommen. War
mir irgendetwas entgangen? Waren Bärte jetzt wieder modern? In den letzten paar Tagen hatten wir in jedem Fall eine Menge
davon gesehen.
»Mama, Tante Pat, das ist mein Kumpel Buck Owens. Buck ist meine rechte Hand auf dem Schiff.«
»Hallo, die Damen. Ich habe schon eine Menge von Ihnen gehört.« Buck schien an die zwanzig Jahre älter als Ray zu sein, etwa
Anfang fünfzig. Seine zerknitterte braungebrannte Stirn zeigte eine beginnende Glatze, und in seinem Bart waren ebenso viele
graue wie braune Haare. Sein Lächeln war jedoch das eines jungen Mannes und ließ weiße, ebenmäßige Zähne aufblitzen. Wie Ray
trug er Jeans und T-Shirt .
»Hier, Ray«, sagte er und drückte ihm eine große Papiertüte in die Hand. »Halt mal meinen Edelkoffer für mich und lass mich
die Damen umarmen.«
Er war ein sehr talentierter Umarmer. Ich bekam sogar einen kleinen Klaps auf den Po und Schwesterherz meiner Ansicht nach
auch. Sie blickte mich grinsend an. Manchmal habe ich das Gefühl, die gesamte feministische Bewegung ist an uns vorbeigegangen.
»Haben Sie noch mal was von Sunshine gehört?«, fragte Buck, während wir zur Gepäckausgabe gingen.
»Nein«, sagte Schwesterherz. »Aber es ist eine Menge passiert.«
»Buck kennt die ganze Geschichte, Mama.«
»Ja, klingt nach einem ganz schönen Schlamassel. Ich bin in Nectar groß geworden und kenne sämtliche Turketts.Nette Leute. Meemaw ist freilich ein wenig seltsam, seit sie die fliegende Untertasse gesehen hat, aber so was kommt gelegentlich
vor, wissen Sie?«
»Natürlich«, stimmte ihm Schwesterherz zu. So etwas passierte schließlich jeden Tag.
Wir waren am Gepäckband angelangt und warteten.
»Das Lustige ist, dass Sunshine schon zwei Tage auf dem Schiff war, bevor Buck feststellte, dass er ihre Familie kennt.«
»Mir sagte der Name Dabbs nichts. Mich hat fast der Schlag getroffen, als ich herausfand, dass sie Kerrigans Tochter ist.«
Ein Surren war zu vernehmen, und die Koffer polterten auf das Band und begannen ihre Runde. »Ich habe gesagt: ›Mein Gott,
wie klein ist doch die Welt.‹«
»Hier, Buck.« Ray griff nach einer Tasche und reichte sie seinem Kumpel.
»Danke. Ich habe einen derartigen Jetlag, dass ich schon schiele.«
»Wollen Sie heute Abend noch nach Nectar raus? Sollen wir Sie dorthinfahren?«, fragte Mary Alice.
Er nickte. »Meine Mama wartet auf mich. Sie ist der eigentliche Grund für meine Heimreise. Ich bin zwar auch mitgekommen,
um Ray zu helfen, aber der
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