Mörderische Aussichten
Hätten Sie lieber einen Tee?«
Meemaw sank auf das Sofa. »Wasser ist prima.«
»Sie sagen, Sunshine machte den Eindruck, als sei sie okay?«, rief sie, während ich Eis aus dem Kühlfach holte.
»Absolut. Sie hatte ihr pinkfarbenes Sommerkleid an.«
»Darin sieht sie hübsch aus.«
Ich kehrte ins Wohnzimmer zurück. »Sie sieht in allem hübsch aus.«
Meemaw nahm das Wasser mit den Eiswürfeln entgegen und trank etwa die Hälfte davon in einem Zug. »Das stimmt«, pflichtete
sie mir bei. Als ich Meemaw die Tür aufgemacht hatte, war mir aufgefallen, dass sie nicht ihr übliches Hauskleid trug. Stattdessen
hatte sie kurze cremefarbene Polyesterhosen an, die zu lang waren, um als Shorts durchzugehen – sie reichten gerade bis unter
die Knie –, und nicht weit genug, um ein Hosenrock zu sein. »Mein Gott, ist das heiß heute«, sagte sie und löste den Polyesterstoff
von ihrem fülligen Oberschenkel. Dann fuhr sie mit dem Finger unter den elastischen Hosenbund. »Am liebsten würde ich mir
ein paar von den Eiswürfeln darunterschieben. Ich schwitze wie eine Nutte in der Kirche.«
Um mein Grinsen zu verbergen, blickte ich durch das Fenster auf das Außenthermometer. »Es sind fast achtunddreißig Grad.«
»Vielleicht regnet es nachher noch.« Meemaw trank das restliche Wasser aus.
»Haben Sie Ray heute Morgen schon gesehen?«, fragte ich.
Meemaw sah mich verdutzt an.
»Ray Crane. Sunshines Mann. Er wollte nach Locust Fork rausfahren.«
Meemaw schüttelte den Kopf. »Kerrigan ist aber da. Und Pawpaw und Howard. Ich habe ihnen gesagt, dass ich Sie sprechen muss.«
Es dämmerte mir allmählich. »Lassen Sie mich raten. Gabriel hat Sie geschickt?«
»Er hat mir gesagt, dass Sie mir etwas zu sagen hätten.Er war ziemlich konkret. Viel konkreter als gewöhnlich. Tatsächlich ist er einen Großteil der Zeit total vage.«
»Das kann ich mir vorstellen.«
Meemaw warf mir einen scharfen Blick zu.
Schuldgefühle nagten an mir. »Ich meine, er muss vage bleiben, wenn man bedenkt, welches Terrain er abdeckt.«
Die Cabbage-Patch-Augen hefteten sich auf mich. »Was wissen Sie denn über Gabriels Terrain, Fräuleinchen?«
»Nicht viel«, sagte ich kleinlaut. »Möchten Sie noch etwas Wasser?«
Meemaw hielt mir ihr Glas hin. Ich floh in die Küche.
»Ich möchte nur wissen, was Sie mir zu erzählen haben«, sagte sie, als ich ihr das wieder aufgefüllte Glas reichte.
Diesmal konnte ich wenigstens ehrlich bleiben. »Ich weiß nichts, außer dass ich Sunshine heute Morgen gesehen habe. Glauben
Sie nicht, dass das die Botschaft ist?«
»Nein. Da ist noch mehr.«
»Sie ist in einen Lieferwagen gestiegen und weggefahren.«
»Was war das für ein Lieferwagen?«
»Ein alter roter.« Ich gab höchst ungern zu, dass ich Autos nicht auseinanderhalten konnte. »Sie war in einem Drugstore, einem
Secondhandladen, einem Antiquitätengeschäft oder in einem Blumenladen. Ich habe in all diesen Geschäften gefragt, aber niemand
hatte sie gesehen.«
Meemaw blickte interessiert drein. »Ein Bekleidungs-Secondhandladen?«
»Ja. Die Frau, die den Laden führt, sieht aus, alswürde sie sich das Haar mit Teer färben. Klingelt da irgendetwas bei Ihnen?«
»Nein. Es ist nur so, dass ich Secondhandläden liebe. Die Hose hier habe ich aus einem in Oneonta.«
»Der hier heißt ›Play it again‹.«
»Ich werd mal reinschauen.«
Okay. Tiefe Stille machte sich zwischen uns breit. Ich hatte das Gefühl, den Pfirsichshake in meinem Magen aufschlagen zu
hören.
»Ich könnte hier einschlafen«, sagte Meemaw schließlich. »Ich habe fast kein Auge zugemacht seit dieser ganzen Geschichte.«
»Ich habe letzte Nacht auch nicht viel geschlafen.« Ich berührte die Beule an meiner Stirn. Sie fühlte sich riesig an. Ich
hatte gar nicht mehr an den Kühlbeutel gedacht, den mir der Apotheker im Drugstore verkauft hatte. Ich würde ihn mir auflegen,
sobald Meemaw wieder gegangen war.
Erneut breitete sich Stille aus. Diesmal durchbrach ich sie. »Ich nehme an, Sie haben gehört, dass sie den Namen des toten
Indianers herausgefunden haben. Dudley Cross aus Bradford.«
»Das hat uns der Sheriff erzählt. Der Mann sagt mir absolut nichts.« Meemaw stellte ihr leeres Glas auf den Couchtisch. »Ich
glaube, wenn ich ihn gekannt hätte, wäre es nicht so schrecklich gewesen.«
»Ich glaube, ich finde lieber die Leiche von jemandem, den ich nicht kenne.«
»Aber nicht, wenn er mit dem eigenen Schweineschlachtmesser
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