Mörderische Aussichten
Überwachung da. Sie haben sie ans CTG angeschlossen, um zu sehen, ob sie Wehen hat.«
Ich eilte hoch in den fünften Stock. Henry und Mary Alice standen draußen im Flur.
»Sie haben uns rausgeworfen«, sagte sie, als sie mich sah. »Sie hängen sie an alle möglichen Dinger an.«
»Nur vorsorglich«, versicherte Henry mir. »Der Doktor sagt, es sehe alles gut aus. Er fragte mich, ob ich wissen wolle, ob
es ein Junge oder ein Mädchen wird.«
»Und – was ist es?«, fragte Schwesterherz.
»Ich habe ihm gesagt, dass ich es nicht wissen will.«
»Bist du verrückt? Selbstverständlich willst du es wissen.«
»Nein, will ich nicht, Mary Alice.«
»Doch, willst du. Wo ist dieser Doktor?« Schwesterherz stapfte auf die Schwesternstation zu.
Henry grinste mich an. »Es ist ein Junge. Ich habe mit Debbie gewettet, dass ihre Mutter das in weniger als zwei Minuten herausfinden
wird.«
Ich blickte zu der offensichtlich diensthabenden Schwester hin, einer Doppelgängerin von Oberschwester Ratched aus ›Einer
flog über das Kuckucksnest‹, die Schwesterherz bereits kühl beäugte. »Du könntest die Wette verlieren.«
Das war natürlich nicht der Fall. Schwesterherz war bereits im nächsten Moment zurück.
»Es ist ein Junge. Ich hoffe, du nennst ihn nicht Philip. Wir haben schon so viele Philips, das verwirrt nur.«
Henry schlug sich an die Brust: »Ein Junge!«
Schwesterherz sah erfreut aus. »Ich wusste doch, dass du es wissen willst.«
Eine Schwester streckte den Kopf aus Debbies Tür. »Mr Lamont, Sie können jetzt reinkommen. Wenn die Damen ein paar Minuten
warten könnten...«
»Warum?«, fragte Mary Alice.
Die Schwester schlug ihr die Tür vor der Nase zu.
»Komm«, sagte ich. »Wir setzen uns ans Ende des Flurs.«
Mary Alice folgte mir zu meiner Überraschung ohne Widerrede. »Ein Junge«, sagte sie, »ein Enkelsohn.« Wir setzten uns. »Weißt
du, Maus, ich glaube, es ist so viel leichter, ein Mann zu sein als eine Frau. Denk an all die Entscheidungen, die du nicht
treffen musst.«
Ich hätte fragen können, was sie damit meinte, ließ es aber sein. Stattdessen erzählte ich ihr, dass es Meemaw gut zu gehen
schien und dass ich ihr von Sunshines Besuch erzählt hatte.
»Die Zwillinge werden sich riesig freuen, einen kleinen Bruder zu bekommen«, meinte Schwesterherz.
Diese Frau hatte soeben erfahren, dass sie ihren ersten Enkelsohn haben würde. Ich konnte die Unterhaltung genauso gut vergessen.
Während sie weiterredete (»Die Babysachen für Jungs sind heute viel hübscher als früher, Maus«), blickte ich aus dem Fenster
auf die Nineteenth Street hinunter. Eine dunkelhaarige Frau in lilafarbenen Bermudas und weißer Bluse überquerte gerade die
Straße und stieg in einen weißen Van, der neben ihr hielt.
»Ich glaube, ich habe gerade gesehen, wie Kerrigan das Krankenhaus verließ«, sagte ich. »Sie stieg in einen weißen Lieferwagen
mit einem Schriftzug auf der Seite.«
»Es gibt sogar welche mit Faltenbesatz. Sie sticken kleine Boote und Enten darauf.«
Ein langer, dürrer junger Mann kam den Flur entlanggelaufen und stellte sich als Dr. Lanagan vor. »Alles sieht gut aus«, sagte er. »Wir behalten sie die Nacht über hier. Sie muss vielleicht noch ein paar Tage
im Bett bleiben, aber ich glaube, das Baby ist sicher an Bord.«
»Können wir jetzt zu ihr?«, fragte Schwesterherz.
»Natürlich.« Er klopfte uns auf die Schulter und schritt davon. Medizinstudenten, beschloss ich in diesem Moment, sollten
mehr Schulterklopfen beigebracht bekommen. Ich fühlte mich besser.
Henry saß an Debbies Bett und hielt ihre Hand. Als sie uns sah, fing sie an zu weinen.
»Siehst du«, konnte ich Schwesterherz vernehmen. »Ich habe es dir doch gesagt, dass es einfacher ist, ein Mann zu sein.«
Vielleicht hatte sie recht.
Wir blieben nicht lang. Debbie und Henry mussten jetzt für sich sein. Selbst Schwesterherz sah das ein.
Der junge Mann auf dem bewachten Parkplatz kam aus der Bretterbude gerannt, um Mary Alice zu versichern, dass ihr Auto in
Ordnung sei. Tadellos. Unberührt. Tipptopp.
»Mein Gott«, sagte sie, als er loslief, um es zu holen. »Dieser Junge ist bestimmt Ritalin-abhängig.« Als er vorfuhr, gab
sie ihm ein großzügiges Trinkgeld, »um ihm mit seinen Arztkosten zu helfen«.
»Weißt du was?«, meinte ich, als wir uns in den Verkehr einfädelten. »Als ich die Klinik betrat, bin ich fast in einen Mann
hineingerannt. Er kam mir bekannt vor. Mir
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