Moerderische Fracht
ICE nach Hamburg, dort hole ich Sie mit dem Auto ab.« Meiners schien deutlich erleichtert.
»Gut. Ich rufe Sie in zwei Stunden an und gebe Ihnen die Ankunftszeit durch.«
Sie legte auf, schnitt meinen Protest mit einer Handbewegung ab und sah auf ihre Armbanduhr.
»Es ist jetzt halb neun. Meiners hat recht. Entweder wir fahren hin und unternehmen etwas, oder wir vergessen die ganze Sache. Das kann ich aber nicht. Nicht nach dem Angriff auf Elena. Also, du rufst jetzt Max Althaus an und bittest ihn, den plötzlichen Überstundenausgleich für dich mit Colmar zu klären. Der kommt mit dem sowieso besser klar als du. Du musst sofort nach Schweden, weil es deinem Vater auf einmal sehr schlecht geht. Dann packst du ein paar Sachen für die Reise und kümmerst dich um die Zugverbindung. Ich fahr in die Zoohandlung, fülle meinen Urlaubsschein aus und lass mir eine plausible Geschichte einfallen. In einer Stunde bin ich mit meiner Reisetasche wieder hier.«
Ich schwieg und rührte mich nicht. Wie so oft bei Annas spontanen Energieschüben hatte ich das Gefühl, um ein Haar unter einen Bus gekommen zu sein.
»War das jetzt zu schnell für dich? Möchtest du es noch mal hören?«
»Du kannst mich …!«
Anna grinste.
»Ausgeschlossen. Helen sieht uns von da oben zu!«
Acht
W
ir bekamen drei Plätze in einem ICE, der um 12.19 Uhr den Münchner Bahnhof verließ. Der Zug war nur spärlich besetzt und wir hatten das Abteil für uns. Max Althaus hatte mir erzählt, wie der Verwaltungschef ausrastete, als er hörte, dass ich meine Überstunden ohne vorherige Absprache und am Stück abfeiern wollte, aber Max hatte ihn freundlich an die von Colmar selbst verfasste Dienstanweisung erinnert, die ein Übertragen der Überstunden ins nächste Jahr verbot. Bei Annas Chefin hatte es keine Probleme gegeben. Sie hatte sogar den bescheuerten Leguan vorübergehend in Pflege genommen.
Anna und ich hatten uns am Bahnhof mit Zeitungen und Magazinen eingedeckt, während Elena sich einen Roman von Günter Grass kaufte, und als der ICE schließlich Fahrt aufnahm, waren wir alle in unsere Lektüre vertieft. Ich ackerte mich durch den Wirtschaftsteil der FAZ und wurde davon schließlich derartig müde, dass ich mich zurücklehnte und in einen unruhigen Schlaf fiel. Erst kurz vor Würzburg wachte ich wieder auf. Anna und Elena unterhielten sich angeregt.
»Wieso weißt du eigentlich so gut Bescheid über Tschetschenien?«, hörte ich Anna fragen.
»Du meinst, für eine Frau, die in einem Tourismusbüro arbeitet?«
Anna nickte.
Elena zog ihre Schuhe aus und machte es sich im Schneidersitz auf der Sitzbank bequem.
»Ich wurde 1971 in Lettland geboren«, sagte sie, »als das Land noch Teil der großen und ruhmreichen Sowjetunion war. Wir Russen waren zwar in der Minderheit, aber natürlich Staatsbürger erster Klasse, und die Letten mussten sich hinten anstellen. Meine Eltern waren Ärzte an einer Poliklinik in Riga, und eigentlich sollte ich ebenfalls Medizin studieren, doch zu ihrem Entsetzen habe ich mich für Politikwissenschaft und Germanistik entschieden. Als später auch noch Jewgeni den weißen Kittel ablehnte und zur See fahren wollte, war das für meine Eltern eine echte Katastrophe. Ich begann im Sommer 1990 mit dem Studium, und bald überschlugen sich die Ereignisse. Die Sowjetunion brach auseinander, Lettland wurde unabhängig, und die Letten bekamen Oberwasser. Lettische Intellektuelle hatten immer schon ein kritisches Verhältnis zur Moskauer Zentralregierung gehabt, jetzt wurde Kritik an Russland sozusagen ein Pflichtfach an der Uni.«
»Hat man dir das Leben schwer gemacht?«, fragte Anna.
Elena schüttelte den Kopf.
»Damals ging es noch. Die in ganz Osteuropa einsetzenden politischen Veränderungen waren jedoch gewaltig. Es war eine aufregende und chaotische Zeit. Gorbatschows Perestroika und der Zerfall der Sowjetunion brachten jedenfalls die Tschetschenen auf die Idee, dass eine Republik, die jedes Jahr vier Millionen Tonnen Erdöl fördert, durchaus ohne eine Moskauer Zentrale auskommen kann. Im November 1990 rief der tschetschenische Volkskongress die Unabhängigkeit der Republik aus und verabschiedete eine Erklärung über die staatliche Souveränität.«
»Haben die Russen das einfach hingenommen?«, fragte Anna.
»Zunächst ja, die Zustände in Moskau waren ja völlig verworren. Im Oktober 1991 wurde Dschochar Dudajew zum ersten Präsidenten der Republik gewählt. Sein Ziel war die völlige Abspaltung
Weitere Kostenlose Bücher