Moerderische Fracht
Tschetscheniens von der Russischen Föderation. Es begann eine Art Tschetschenisierung aller Lebensbereiche, was wiederum eine Massenflucht der russischsprachigen Bevölkerung zur Folge hatte. Im November 1994 hat Moskau dem Ganzen ein Ende gemacht. Das war der Anfang des Ersten Tschetschenienkrieges.«
»Da war ich dreizehn«, sagte Anna, »ich habe tatsächlich keine Ahnung, was dort passiert ist.«
»Die russische Armee hat Grosny bombardiert«, warf ich ein, »ohne jede Rücksicht auf die Zivilbevölkerung.«
»Das Gemetzel dauerte vier Monate«, sagte Elena, »Artillerieeinheiten und Luftstreitkräfte legten ein Stadtviertel nach dem anderen in Schutt und Asche. Die Tschetschenen leisteten erbitterten Widerstand und verteidigten jede einzelne Häuserzeile. Von Grosny aus wurde der Krieg schließlich in den gesamten Kaukasus getragen. Als er 1996 mit dem Friedensvertrag von Chassawjurt offiziell beendet wurde, waren ungefähr 120000 Tschetschenen tot.«
»Was hast du in dieser Zeit gemacht?«, fragte Anna.
»Zu Beginn des Krieges war ich mit dem Studium fertig, habe mich allerdings weiterhin mit dem Thema Tschetschenien beschäftigt. Wissenschaftlich und auch publizistisch. Leider hatte ich trotz meiner Moskaukritischen Einstellung im lettischen Wissenschaftsbetrieb keine Chance – nur weil ich Russin war. Und so bekam ich später den qualifizierten Job im Tourismusbüro der Stadt Ventspils. Übrigens wegen meiner guten Deutschkenntnisse.«
»Das klingt verbittert.«
»Nein«, sagte Elena kurz angebunden, »verbittert war ich, als mein Mann starb.«
Anna wurde rot und schwieg. Nach einer Weile siegte, wie immer, ihre Neugier.
»Wie ist das passiert?«
Elena sah aus dem Fenster und schien zunächst nicht antworten zu wollen. Schließlich schüttelte sie verdrossen den Kopf.
»Er war Ingenieur, bei der Pipeline Druschba. Das heißt Freundschaft. Ein schöner Name für eine Pipeline, nicht wahr? Sie wurde schon in den Sechzigern gebaut, um von Ventspils aus das sibirische Erdöl in alle Welt zu verkaufen. Wisst ihr, dass die durchschnittliche Haltbarkeit einer Pipeline mit dreißig Jahren veranschlagt wird? Russland hat das größte Pipeline-Netz der Welt. Die Gesamtlänge der Öl-Pipelines allein beträgt schon knapp 50000 Kilometer, alles kontrolliert von einem einzigen Monopolunternehmen, und das meiste davon völlig marode. Die übliche Schlamperei. Es gab ein Leck, eine Explosion und eine Witwe. Der Name meines Mannes war Leonid. Über fünfzig Prozent seiner Haut waren verbrannt. Er hielt sechs Wochen durch und war der tapferste Mann des Universums. Im Mai 2002 ist er an Verletzungen, die mit dem Leben nicht vereinbar sind, gestorben.«
Elena schwieg erschöpft. Sie lehnte sich zurück und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Anna betrachtete sehnsüchtig ihren Daumennagel.
»Tut mir leid«, sagte sie, »wenn ich gewusst hätte, dass es so weh tut, hätte ich nicht gefragt.«
Elena schaute aus dem Fenster und antwortete nicht. Das Wetter hatte sich verschlechtert. Dunkle Regenwolken und gelegentliche Blitze tauchten die vorbeihuschende Landschaft in ein bizarres und unwirkliches Licht. Ich schloss erneut die Augen, konzentrierte mich auf das gleichmäßige Fahrgeräusch des Zuges und versuchte vergeblich, wieder einzuschlafen. Ich dachte an Morisaitte. Wo mochte er jetzt sein? Er konnte problemlos in Serbien, Deutschland oder Belgien untertauchen. Falsch, er brauchte überhaupt nicht unterzutauchen, weil er in allen drei Ländern ein unbescholtener Mann war. Er sprach Serbokroatisch, Deutsch, Niederländisch und Französisch. Wie viel von diesen Sprachen hatte er wiedererlangt? Er kann wieder sprechen, hatte Dr. Brugmann gesagt, allerdings nicht, wie Sie und ich. Es ist eine Art Telegrammstil. Der Mord in Mombasa und die Gedenkausstellung in Antwerpen ließen keinen Zweifel daran, was er vorhatte. Er war auf einem Rachefeldzug, und Anna und ich standen ganz oben auf der Liste. Gab es eine Möglichkeit, ihn aufzuspüren? Ich dachte an Verlaine & Partners, die Detektiv-Agentur in Brüssel, die uns geholfen hatte, Morisaittes Identität und Vergangenheit aufzuklären. Ich weiß nicht, was Sie vorhaben, und ich will es auch gar nicht wissen, aber kommen Sie nicht mehr hierher, hatte der alte Verlaine damals gesagt, nachdem ich ihn gebeten hatte, mir das Insulin zu besorgen. Er würde nicht mehr für mich arbeiten. Vielleicht gab es eine Möglichkeit, Morisaitte hervorzulocken, ihm eine Falle zu
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