Moerderische Fracht
recht gut schießen, aber es hat mir nie wirklich Spaß gemacht. Jewgeni schon. Als ich von zu Hause auszog, freute sich mein Vater, dass er aus meinem Kinderzimmer endlich einen Ausstellungsraum für seine Scheißpistolen machen konnte.«
Anna strich mit dem Finger über das große Einschussloch im Polster der Armlehne.
»Ich will hier raus! Lasst uns in Hannover aussteigen. Wir finden einen anderen Zug.«
Ich nickte.
»Was ist mit der Polizei?«, fragte Elena.
»Nein«, erwiderte Anna bestimmt, »wenn wir jetzt die Polizei einschalten, kommen wir nie nach Hamburg. Sie werden den Tatort sichern, das Projektil suchen und uns endlos mit Fragen löchern, falls sie uns überhaupt irgendetwas glauben, und es wird nicht das Geringste dabei herauskommen.«
»Als der Mann auf dich gezielt hat«, sagte ich zu Elena gewandt, »hat er etwas gesagt. Hast du das mitbekommen?«
»Schalko tebja!«
Anna rollte vor Ungeduld mit den Augen.
»Und das heißt?«
»Schade um dich.«
Neun
A
nna hatte recht. Natürlich bekamen wir in Hannover einen anderen Zug, aber der nächste ICE nach Hamburg kam mit Verspätung, und schließlich kostete uns der Zugwechsel weit mehr als eine Stunde.
Während der Fahrt versuchte Anna wiederholt Meiners anzurufen, um ihn über die neue Ankunftszeit zu informieren. Nachdem sie ihn erreicht hatte, telefonierte sie mit der Polizei und gab an, dass im ICE von München nach Hamburg ein Zugbegleiter angegriffen wurde, doch wie erwartet glaubte ihr niemand.
Elena war abwesend, in sich gekehrt und litt unter den Nachwirkungen des Schocks, der auch mir in den Gliedern saß. Ich fühlte mich wie jemand, der um ein Haar in einen leeren Fahrstuhlschacht getreten war. Am helllichten Tag mit einer Waffe angegriffen zu werden, schien so weit entfernt von allem, womit man in einem Land wie Deutschland rechnete, dass ich es irgendwie nicht wahrhaben wollte – wie ich wusste, das Ergebnis eine schlichten Verdrängung. Olof Palme starb vor einem Stockholmer Kino, die schwedische Außenministerin wurde in einem Kaufhaus erstochen, und die russische Journalistin Anna Politkowskaja traf ihre Mörder vor dem Fahrstuhl ihres Wohnhauses. In meinem Kopf existierte eine lange Liste öffentlicher Liquidierungen, es standen keineswegs nur Prominente darauf. Egal, ob politische Attentate, Eifersuchtsdramen oder Ehrenmorde, die Opfer standen jemandem im Weg, und die Täter kümmerte es nicht, ob sie bei der Tat gesehen oder gefasst wurden. Einen Mann, der keinen Gedanken an einen Fluchtweg verschwendet, kannst du überall hinschicken, hörte ich Elena sagen.
Wenn ich die Augen schloss, erschien auf meiner Netzhaut das Bild des Mannes mit dem Arm in der Schiebetür, der völlig unbeeindruckt von seinen Schmerzen weiter versucht hatte, sie zu erschießen. Es verursachte mir eine lähmende Übelkeit.
Meiners stand auf dem Bahnsteig, als der Zug einfuhr. Er war unübersehbar. Ein großer, magerer Mann Anfang fünfzig mit einem Seehundsschnauzbart und runder Nickelbrille. Vor zwei Jahren hatte er sein spärliches graues Haar kurz geschnitten getragen. Nun war es oben ganz verschwunden, dafür hatte er den lockigen grauen Haarkranz um die Kopfmitte herumwachsen lassen. Die wirr in alle Richtungen abstehenden Haare sahen aus wie explodierende Stahlwolle. Annas Laune schien sich bei seinem Anblick spontan zu verbessern. Meiners begrüßte uns herzlich wie alte Bekannte, streifte Elena mit einem bewundernden Blick und schnappte sich unsere Koffer.
»Ich habe umdisponiert«, sagte er, »wir fahren heute nicht mehr nach Warnemünde. Ich habe für uns alle Zimmer in einem Hotel gebucht. Keine Angst, das zahle ich. Morgen früh haben wir ein Treffen mit drei Leuten, die ich Ihnen gerne vorstellen möchte. Und jetzt packen wir Ihr Gepäck in mein Auto und gehen was essen.«
Die Aussicht auf eine warme Mahlzeit zauberte ein strahlendes Lächeln auf Annas Gesicht.
»Am Anfang, vor zwei Jahren, mochte ich Sie nicht«, sagte sie zu Meiners, »ich weiß gar nicht mehr, warum?«
Auch Elena schien ihre Niedergeschlagenheit überwunden zu haben, und als wir uns eine halbe Stunde später in einem italienischen Restaurant in Barmbek an einen reservierten Tisch setzten, hatte sich die allgemeine Stimmung erheblich gebessert. Es war ein schickes, aber dennoch gemütliches Lokal, in dem Meiners offenbar bestens bekannt war. Der Küchenchef kam herausgeschossen, kaum dass wir uns niedergelassen hatten, und begrüßte ihn
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