Moerderische Kuesse
Bleichen ausgetrockneten Spitzen zu kappen.
Aber als sie in den Spiegel sah, erblickte sie endlich wieder sich selbst. Die getönten Kontaktlinsen waren verschwunden, ihre eigenen blassblauen Augen schauten sie an. Ihr glattes Haar war wieder weizenblond und reichte ihr wie zuvor bis auf die Schultern. Sie konnte direkt an Rodrigo Nervi vorbeispazieren, ohne dass er sie wieder erkennen würde – so hoffte sie inständig, denn sie würde möglicherweise genau das tun.
Müde ließ sie die Taschen auf das gemachte Ausklappbett fallen und plumpste dann daneben. Eigentlich hätte sie als Erstes kontrollieren sollen, ob die Wohnung während ihrer Abwesenheit verwanzt worden war, aber sie hatte den ganzen Tag ihre Reserven strapaziert und zitterte inzwischen vor Erschöpfung. Wenn sie sich nur eine Stunde Schlaf gönnte, würde die Welt wieder ganz anders aussehen.
Alles in allem war sie trotzdem erleichtert, dass sie so gut durchgehalten hatte. Sie war todmüde, das schon, aber sie japste nicht nach Luft, wie Dr. Giordano prognostiziert hatte, falls die Herzklappe schweren Schaden genommen hätte.
Natürlich hatte sie sich auch nicht übermäßig angestrengt und keine Sprints hingelegt. Insofern war das letzte Wort über diese ganz spezielle Herzgeschichte noch nicht gesprochen.
Sie schloss die Augen und konzentrierte sich in der Stille auf ihren Herzschlag; ihr kam er ganz normal vor. Poch‐poch, poch‐poch. Vielleicht hatte Dr. Giordano in seinem Stethoskop ein Murmeln gehört, aber sie hatte kein Stethoskop, und soweit sie es beurteilen konnte, klang ihr Herz so wie immer.
Vielleicht war der Schaden nicht tragisch, gerade so groß, dass ein leises Rauschen oder Murmeln zu hören war. Vorerst musste sie sich über andere Dinge den Kopf zerbrechen.
Sie sank in einen Halbschlaf, in dem ihr Körper entspannte, während ihre Gedanken um ihre momentane Lage zu kreisen begannen, bis sie alle ihr bekannten Fakten sortiert und neu angeordnet hatte, um endlich eine Antwort auf die ihr unbekannten Faktoren zu finden.
Sie wusste immer noch nicht, worauf Averill und Tina gestoßen waren oder was man ihnen erzählt hatte, aber jedenfalls war ihnen die Sache so nahe gegangen, dass sie in ein Geschäft zurückgekehrt waren, das sie längst aufgegeben hatten. Wer sie damals beauftragt hatte, wusste sie genauso wenig. Die CIA war es nicht gewesen, davon war sie überzeugt.
Der englische MI‐6 wahrscheinlich auch nicht. Die beiden Geheimdienste waren zwar voneinander unabhängig, aber die beiden Regierungen und ihre jeweiligen Dienste kooperierten häufig, und außerdem hatten sie zahllose aktive Agenten, sodass keine Notwendigkeit bestanden hätte, zwei Exagenten zu reaktivieren.
Tatsächlich war es ziemlich unwahrscheinlich, dass die beiden von irgendeinem Geheimdienst angeheuert worden waren, die Aktion sah eher nach einem privaten Auftraggeber aus. Irgendwann – Quatsch, ständig – war Salvatore Nervi während seines Aufstiegs anderen Leuten auf die Zehen getreten, hatte Menschen eingeschüchtert und aus dem Weg geräumt. Feinde von Salvatore Nervi zu finden war kein Problem; sie alle zu überprüfen, das konnte hingegen Jahre dauern. Aber wer davon hatte sich wohl die Mühe gemacht, zwei Profis, wenn auch ehemalige Profis, für einen Gegenschlag anzuwerben? Und zweitens, wer hatte von der Vergangenheit ihrer Freunde gewusst? Averill und Tina hatten ein durch und durch bürgerliches Leben geführt, und sie hatten alles getan, um Zia genau dieses Leben zu bieten; sie hatten definitiv nicht mit ihrer Vergangenheit herumgeprahlt.
Trotzdem hatte jemand über sie und ihre Fähigkeiten Bescheid gewusst. Das ließ auf jemanden aus der Branche schließen, dachte Lily, oder es war zumindest jemand in einer Position gewesen, in der man Zugriff auf die Namen aller Agenten hatte. Der‐ oder diejenige war auch erfahren genug gewesen, keine aktiven Agenten anzusprechen, um keine unerwünschte Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Stattdessen hatte er oder sie Averill und Tina genommen, weil … ja, warum nur? Warum ausgerechnet sie? Und warum hatten die beiden, die doch auch an Zia denken mussten, dieses Angebot angenommen?
Immerhin waren ihre Freunde jung genug gewesen, um noch in Form zu sein – sonst konnte Lily sich keinen Grund denken, warum die Wahl auf sie gefallen war. Außerdem waren sie kompetent, besonnen und erfahren. Lily konnte nachvollziehen, warum man sie angesprochen hatte, aber was hatte sie nur dazu getrieben
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