Mörderische Tage
sich vorstellen konnte, eine Mutter, die alles für ihre Kinder getan hatte und auch in Zukunft tun würde.
Ein Blick auf die Uhr, Viertel nach eins. Sie hatte Hunger, aber keinen Appetit. Allein seit März hatte sie wieder drei Kilo an Gewicht verloren, in den vergangenen anderthalb Jahren fast acht Kilo. Sie wog jetzt wieder genauso viel wie vor zwanzig Jahren, zu wenig für eine Frau ihres Alters. Sie trieb viel Sport, ernährte sich gesund und war sich dennoch darüber im Klaren, dass ihre Lebensweise zu wünschen übrigließ. Zu viel Arbeit, zu wenig Schlaf, zu viel Grübeln über ihre private Situation. Zu sich selbst sagte sie, dass sie sich mit ihrem Leben arrangiert hatte, in ihrem Innern war sie jedoch höchst unzufrieden. Ihr Leben war eintöniger als das einer hundertjährigen Schildkröte, und außer Susanne Tomlin hatte sie keine echte Freundin, nur ein paar wenige Bekannte. Selbst mit Hellmer verband sie kaum noch mehr als der Beruf, auch der Kontakt zu Nadine hatte sich auf ein Minimum reduziert, ohne dass Julia eine Erklärung dafür hatte. Zuletzt hatten er, Nadine und sie sich privat im November bei den Hellmers getroffen, ein belangloser, langweiliger Abend, bestehend aus ödem Smalltalk, der schon nach zwei Stunden vorbei war. Seit Hellmers großer Krise, die ihn beinahe das Leben gekostet hätte, war nichts mehr wie früher. Er und Nadine hatten wieder zueinandergefunden, aber Julia spielte kaum noch eine Rolle, obwohl sie nicht unwesentlich dazu beigetragen hatte, dass Hellmer wieder auf die Beine gekommen war.
Viele Gedanken huschten durch ihren Kopf, während sie die Beine hochgelegt und die Augen geschlossen hatte. Sie mochte ihr Leben schon seit langem nicht mehr, doch sie hatte keine Ahnung, wie sie diesen Zustand ändern konnte. Immer häufiger saß sie abends in ihrer Wohnung und weinte, Tränen, die niemand außer ihr sah, Tränen, die einfach so herauszufließen schienen.
Sie hatte viele lange Gespräche mit ihrem Vater geführt, einem geduldigen Zuhörer, der jedoch auch keinen vernünftigen Rat mehr für sie hatte, sie wollte auch gar keinen mehr, es brachte ihr nichts. Aber er war jederzeit für sie da, und das war das Wichtigste. Zum Glück war er gesund und steckte trotz seiner fast siebzig Jahre voller Energie, die er mit anderen teilte. Ein Pfarrer im Ruhestand, der sich auf den seelsorgerischen Bereich konzentrierte.
Sie atmete ein paarmal tief durch, verzog den Mund und erhob sich. Sie ging in die Kantine, aß die Hälfte ihres Tellers mit Gulasch und Nudeln und trank eine Cola. Danach fühlte sie sich nicht besser.
Montag, 17.00 Uhr
Johann Jung erschien bereits den zweiten Montag pünktlich um 16.55 Uhr in der Praxis, nahm im Wartezimmer Platz, bis er kurz darauf ins Sprechzimmer gerufen wurde. Sein Gesichtsausdruck wirkte wie seit Beginn der Gesprächstherapie vor einer Woche bedrückt, die Schultern hingen leicht nach vorn, sein Blick war nach unten gerichtet. Jung roch dezent nach einem der Jahreszeit angemessenen Eau de Toilette, er trug eine dunkelblaue Jeans, ein dunkelbraunes Hemd und braune Schuhe, die exklusive Uhr an seinem linken Handgelenk zeugte von Wohlstand, genau wie der Porsche, mit dem er gekommen war. Er zahlte die Sitzungen bar und schien sich bei Alina Cornelius in guten Händen zu fühlen. Jung war etwa ein Meter fünfundachtzig groß, schlank und sehr gepflegt, seine Augen hatten jedoch einen überaus traurigen Ausdruck. Die Mundwinkel zeigten nach unten, seine Körperhaltung war die eines traurigen, einsamen Mannes. Trotz seiner erst siebenunddreißig Jahre wirkte er wie ein alter, gebrochener Mann, und Alina Cornelius hätte ihn wenigstens auf Anfang bis Mitte vierzig geschätzt, was nicht zuletzt an seinem Bart und der dunklen Brille mit den leicht getönten Gläsern lag, die er nur hin und wieder für einen Moment abnahm.
Er hatte ihr in seiner ersten Sitzung erzählt, wie er vor gut sechs Wochen an einem Donnerstagabend nach Hause gekommen und seine Frau verschwunden gewesen war. Sie hatte einen Abschiedsbrief hinterlassen, in dem sie ihm mitteilte, dass sie einen anderen Mann kennengelernt habe, mit dem sie den Rest ihres Lebens verbringen wolle. Sie hatte nur das Notwendigste mitgenommen – und zehntausend Euro aus dem Tresor. Angeblich war sie zum Einkaufen gefahren, während ihre Mutter, die zwei Häuser weiter wohnte, die beiden kleinen Kinder hütete. Seit jenem Tag fehlte von Frau Jung jede Spur. Johann Jung, der all die Zeit
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