Mörderische Tage
über gehofft und gebangt hatte, dass sie doch zurückkehren würde, wusste nun, dass diese Hoffnung vergebens war. Nachdem er diese Gewissheit verinnerlicht hatte, war er in ein unendlich tiefes Loch gefallen. Plötzlich war er allein mit zwei kleinen Kindern im Alter von zwei und vier Jahren.
Er plagte sich mit Zweifeln und Selbstvorwürfen, dazu kamen Depressionen, die ihn nach eigenen Angaben eines Nachts plötzlich wie eine eiserne Faust gepackt und bis heute nicht mehr losgelassen hatten. Sein Kopf war voll düsterer Gedanken, manchmal, so sagte er mit leiser Stimme, würde er am liebsten nicht mehr leben, auf der anderen Seite hatte er Angst vor dem Sterben und dem Tod. Und er wolle nicht vor der Realität flüchten, sondern etwas gegen sein Leid unternehmen. Seine Eltern und Schwiegereltern hatten ihm dringend angeraten, psychologische Hilfe in Anspruch zu nehmen. So war er bei Alina Cornelius gelandet, die er aus dem Telefonbuch herausgepickt hatte, wie er sagte.
Nun saß er ihr schräg gegenüber, den Blick gesenkt, die Hände verkrampft. Alina Cornelius fragte ihn, ob sie ihm ein Glas Wasser oder einen Tee anbieten dürfe, doch er verneinte.
»Herr Jung, wie geht es Ihnen heute?«, fragte sie, obwohl sie die Antwort bereits in seinem Gesicht und an seiner Körperhaltung abgelesen hatte.
»Nicht viel anders als beim letzten Mal«, entgegnete er müde. »Ich kann kaum noch schlafen, und wenn, dann sind da diese fürchterlichen Alpträume. Manchmal habe ich das Gefühl, ich werde verrückt.«
Ohne darauf einzugehen, sagte Alina Cornelius: »Und wie läuft es beruflich? Sie sind doch Anlageberater in einem Wertpapierunternehmen.«
»Das stimmt. Es läuft nicht mehr ganz so gut wie früher, aber ich muss ja was tun, auch wenn es schwerfällt. Erst dachte ich, diese Ablenkung würde mir guttun, aber das war ein Irrtum. Ich fühle mich so unendlich allein und einsam. Da geht man jahrelang mit der Frau, die man liebt, abends ins Bett, und mit einem Mal ist dieses Bett leer. Ich kann in diesem Bett nicht mehr schlafen, alles in diesem Zimmer erinnert mich an sie. Ich habe das Schlafzimmer seit letztem Dienstag nicht mehr betreten.«
»Sind dort nicht Ihre Sachen zum Anziehen?«
»Nachdem ich letzten Montag von Ihnen nach Hause gekommen bin, habe ich die meisten Kleidungsstücke rausgeholt und das Zimmer verschlossen. Ich weiß, das klingt dumm, aber es ist für mich die einzige Möglichkeit, mit der Situation zurechtzukommen.«
Alina Cornelius machte sich Notizen und registrierte dabei aus dem Augenwinkel, wie er sie für einen Moment ansah.
»Und die Depressionen?«
»Wenn ich arbeite, ist es okay, aber sobald ich zu Hause bin, ist da dieses schwarze Loch. Ich bin kaum fähig, etwas zu tun. Ich schaffe es gerade so, die Kinder zu versorgen, und bin froh, wenn sie im Bett sind. Es sind doch unsere Kinder!«, sagte er und verkrampfte die Hände noch mehr. »Ich glaube, ich werde allmählich verrückt«, wiederholte er noch einmal.
»Sie haben einen schweren Verlust erlitten und befinden sich nervlich, emotional und psychisch in einem Ausnahmezustand. Das ist in einem Fall wie dem Ihren völlig normal. Hatten Sie früher schon einmal mit Depressionen oder Angstzuständen zu kämpfen?«
Jung schüttelte den Kopf. »Nein, so was kannte ich bislang nicht. Das Leben hatte es immer gut mit mir gemeint. Schauen Sie, ich bin sehr erfolgreich im Beruf, ich habe schon mit fünfundzwanzig über eine halbe Million im Jahr verdient, inzwischen ist es sogar wesentlich mehr. Aber was nützt mir der größte Reichtum, wenn die Frau, die ich über alles liebe, nicht mehr da ist? Was habe ich ihr getan, dass sie einfach so auf und davon ist? Was? Wir haben uns fast nie gestritten, höchstens über Kleinigkeiten, wie das in jeder Ehe vorkommt. Wir kennen uns, seit wir fünfzehn waren, und ich dachte, wir würden irgendwann zusammen alt und grau werden. Aber da habe ich mir wohl was vorgemacht. Zweiundzwanzig Jahre wirft man doch nicht so einfach hin! Und ich begreife auch nicht, wie sie das unseren Kindern antun kann.«
»Beschreiben Sie mir bitte, wie Sie Ihre Depressionen empfinden.«
»Wie ich schon erwähnte, es ist wie ein schwarzes Loch. Dazu kommen Schluckbeschwerden, Herzrasen, und wenn ich mich hinlege, habe ich das Gefühl, als würde sich ein Ei-senpanzer um meine Brust legen. Und da ist so ein merkwürdiges Vibrieren, das von innen kommt und das ich kaum beschreiben kann. Ich sage Ihnen, das ist ein Zustand,
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