Mörderische Tage
könnten wir höchstens spekulieren. Ich werde mich noch mit einem Kollegen aus den USA kurzschließen, der große Erfahrung auf dem Gebiet der Stressoren und dadurch bedingter Folgeerkrankungen hat, weil er unter anderem Soldaten behandelt hat, die im Irak waren. Von ihm erhoffe ich mir weiterführende Auskünfte.«
»Und ihr habt nicht einmal eine Vermutung, was zu diesem Extremstress bei der Schweigert geführt haben könnte? Wenigstens eine Hypothese?«, fragte Durant.
Bock sah die Kommissarin mit klarem Blick an und entgegnete ruhig, aber bestimmt: »Werte Frau Durant, ich kann nicht einmal mit einer Hypothese aufwarten. Außerdem arbeiten wir nicht auf der Grundlage von Vermutungen, sondern berufen uns ausschließlich auf Fakten. Es kommen sehr unterschiedliche Ursachen in Betracht, aber ich werde einen Teufel tun und mich festlegen, solange ich nicht mit Professor Brinkley in Atlanta gesprochen habe. Also, tun Sie mir einen Gefallen und gedulden Sie sich bitte noch einen Tag«, sagte Bock, der seinen cholerischen Höhepunkt längst überschritten hatte und wieder auf Normalniveau mit den Beamten sprach.
»Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen wollen, ich muss nach nebenan. Falls Sie noch Fragen haben, Frau Dr. Sievers steht Ihnen sicher gerne zur Verfügung. Und vielleicht hat sie ja auch eine Hypothese für Sie.«
Als sie allein waren, sagte Durant: »Und, hast du eine? Spuck's aus, du kannst dich nicht verstellen.«
»Ich will nichts über Bocks Kopf hinweg sagen, der reißt mir sonst den meinigen ab. Er ist sowieso schon total durch den Wind, weil er weder die erhöhten Stressoren noch das multiple Organversagen erklären kann.«
»Wir werden es nicht verwenden, solange er uns nicht kontaktiert und uns seine dezidierte Meinung mitteilt. Großes Ehrenwort.«
»Gehen wir nach draußen, ich wollte sowieso eine rauchen.«
Sie setzten sich auf eine Bank und steckten sich jede eine Zigarette an, für Julia war es die erste an diesem Tag.
»Bock hat gestern schon eine Vermutung geäußert, die gar nicht so abwegig erscheint. Wir haben ihr Gehirn untersucht und dabei festgestellt, dass die Hirnmasse geschrumpft war. Das heißt, wäre die Kleine nicht gestorben, so hätte sie doch irreversible Schäden davongetragen, wie zum Beispiel Verlust des Kurzzeitgedächtnisses, vielleicht sogar kompletter Gedächtnisverlust, was auch das Nichterkennen der ihr vertrauten Personen erklären würde, dazu Sprachstörungen, motorische Störungen und so weiter. Es ist eine Hypothese, aber es ist möglich, dass sie über einen längeren Zeitraum hinweg überhaupt keinen Reizen ausgesetzt war …«
»Moment, Moment«, wurde sie von Durant unterbrochen, »das hast du vorhin schon mal angedeutet, aber was bedeutet überhaupt keinen Reizen?«
»Wenn du mich bitte ausreden lassen würdest. Normalerweise sind wir permanent Reizen ausgesetzt, die wir mit unsern fünf Sinnen wahrnehmen. Musik, Fernsehen, Menschen, die sich unterhalten, und während wir hier sitzen, hören wir Autos, Vögel, Flugzeuge, alles Dinge, die zu unserem Leben gehören und die unser Hirn benötigt. Alltagsgeräusche. Wir müssen denken und handeln, Aktion, Reaktion. Selbst wenn wir uns auf die Couch lümmeln und scheinbar nichts tun, so sind wir doch Reizen ausgesetzt. Licht, zum Beispiel, oder jemand läuft in der Wohnung über uns, oder ein Wasserhahn tropft und so weiter, und so fort. Wenn diese Reize komplett fehlen, das heißt, wenn du überhaupt keinem Geräusch oder Licht mehr ausgesetzt bist und nichts mehr siehst, hörst, schmeckst oder riechst, wenn dir all das, was in deinem Leben seit deiner Geburt so selbstverständlich war, mit einem Mal entzogen wird, beginnt das Gehirn zu schrumpfen. Wie lange es dauert, bis dieser Prozess einsetzt, kann ich nicht sagen. Es gibt Menschen, die in Isolationshaft waren, eine der brutalsten und grausamsten Formen der Folter überhaupt, und sie berichten, dass ihnen dort alles entzogen wurde und sie die schlimmsten Demütigungen über sich ergehen lassen mussten, die man sich nur vorstellen kann. Das Einzige, was solche Häftlinge bekommen, ist Essen und Trinken. Du verlierst jegliches Zeitgefühl, weil du in absoluter Dunkelheit bist, du bist völlig abgeschottet von der Außenwelt. Du hörst niemanden schreien, du hörst keine Schritte, nichts. Niemand kommuniziert mit dir, bis du fast wahnsinnig wirst. Und nun gehen wir mal von dem Fall aus, dass die Kleine die vergangenen sechs Monate in Isolationshaft
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