Mörderisches Musical
einem schäbigen
Sandsteinhaus nahe der West End Avenue ihre Praxis hatte.
Im Unterschied zur Fifth Avenue herrschte Leben
auf dem Broadway. Es war die Hauptdurchgangsstraße der rund um die Uhr
betriebsamen Upper West Side.
Wetzon betrat den Fairway Market, wich einer
weißhaarigen Frau mit einem Einkaufswagen aus und schaffte es, sich von einer
uralten Frau, die ihre Gehhilfe wie einen Sturmbock handhabte, auf den Fuß
treten und anschubsen zu lassen. Der Stapel der Granny-Smith-Apfel war an die
zwei Meter hoch. Obwohl die Versuchung groß war, einen in Augenhöhe
herauszuangeln, schreckte die Vision einer Apfellawine in diesem überfüllten
Markt sie ab. Statt dessen reckte sie sich auf Zehenspitzen — schließlich war
sie Tänzerin — und nahm einen von oben. Dann holte sie sich noch einen Joghurt
mit Kaffeegeschmack. Die winzige Menge Koffein im Joghurt würde ihr den kleinen
Extraschub geben, um die Sitzung bei Sonya durchzustehen. Als sie sich mit dem
Joghurt in der Hand aufrichtete, wurde sie von einem Stock in einer knotigen
Hand heftig in die Wade gestoßen. Hinter ihr stand ein winziger alter Mann mit
fleckigem weißem Backenbart, der versuchte, Wetzons Platz an der Kühltheke
einzunehmen.
»Entschuldigen Sie bitte«, sagte Wetzon. »Kann
ich Ihnen etwas herausholen?«
»Geh mir einfach aus dem Weg, Mädchen«, fauchte
der Mann.
Schockiert trat Wetzon beiseite. Sie hatte
vergessen, wie aggressiv die alten Leute bei Fairway waren. Sie ging auf die
Kassen zu und wollte sich gerade in eine Schlange einreihen, als sie von einem
Einkaufswagen, den eine kleine alte Frau in Sturmmantel und schmutzigen weißen
Reeboks schob, brutal beiseite gestoßen wurde.
»Ich habe es gesehen«, schrie die alte Frau.
»Sie haben versucht, mich aus der Schlange zu drängen! Haben es alle gesehen?
Miss Piß Elegant hier hat versucht, sich vorzudrängeln!«
»Ich habe nichts dergleichen getan«, sagte
Wetzon empört. »Sie haben mich gestoßen.«
»Wen interessiert das? Sie halten uns auf«, riefjemand.
Hinter Wetzon hatte sich schon eine lange Schlange ungeduldiger Käufer
gebildet.
»Sie waren es nicht.« Eine Frau in einem grellen
rosa Mantel, die einen Plastikkorb voller Lebensmittel trug, stand hinter
Wetzon. »Ich kaufe immer hier ein, und jedesmal werde ich von einem dieser
verrückten Senioren über den Haufen gerannt oder beschimpft.«
»Danke.« Wetzon flüsterte ein inbrünstiges
Gebet, daß sie nie so ein alter Brummbär werden möge. Sie bezahlte Apfel und
Joghurt und ging das kurze Stück zu Sonyas Haus weiter, wo sie die abgestoßenen
und gesprungenen Steinstufen zur Haustür hinaufstieg. In dem winzigen Vorraum
läutete sie an der mit >4< bezeichneten Klingel und schaute, während sie
wartete, durch die Glasscheibe auf die 73. Street hinaus. Zwei aus
verschiedenen Richtungen kommende Frauen blieben vor dem Haus stehen und
plauderten miteinander, während sich ihre Hunde, ein angeleinter Dackel und ein
Weimaraner ohne Leine, beschnüffelten.
Wetzon drückte noch einmal auf die >4<.
Endlich knackte die Sprechanlage. »Ja?«
»Leslie.« Wetzon legte die Hand an die Tür und
wartete auf den Summer, dann drückte sie die Tür auf.
Wetzon bemerkte sofort, daß das alte
Sandsteingebäude einen neuen Besitzer hatte. Das Gebäude war so
heruntergekommen gewesen, als sie zum letztenmal hier war, und Sonya war nur
wegen der niedrigen Miete hiergeblieben. Jetzt sah der Flur beinahe elegant aus
mit dem neuen Moosröschen-teppich und einem gepolsterten viktorianischen Sofa.
In der Ecke an der Treppe stand ein alter Ahornschaukelstuhl. Alte Kostümdrucke
in schönen Rahmen hingen an den Wänden. Der Moosröschenläufer lief, unter
Gummileisten auf jeder Stufe, die ganze Treppe hoch.
Sonyas aus zwei Räumen bestehende Praxis befand
sich im ersten Stock an der Rückseite. Das Haus war immer noch schäbig, doch im
Vergleich zu früher von qualitätvoller Schäbigkeit.
Sonya war großgewachsen und breitschultrig. Sie
trug ein schwarzes Trikot, schmalgeschnittene schwarze Hosen, einen langen,
lose fallenden roten Blazer und niedrige Boots aus Schlangenleder. Ihr kurzes
schwarzes Haar hatte sie mit einer Welle zur Seite gekämmt, die dunklen Augen
waren mit Mascara und grauem Lidschatten betont. Große Ohrringe rahmten ihr
Gesicht.
»Menschenskind, Sonya«, rief Wetzon, »du siehst
jedesmal, wenn ich dich sehe, jünger aus. Jetzt besitzt du auch noch die
Frechheit, mädchenhaft auszusehen.«
»Mädchenhaft? Ich?«
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