Möwennest-Reihe Gesamtband (German Edition)
nicht so viele Gedanken, mein Kind. Gleich gibt es erst einmal was Warmes. Das hier ist alles verwirrend genug. Eine schöne Tasse Tee lässt einiges in einem ganz anderen Licht erscheinen. Vertraue mir, meine Liebe. Tee wirkt wahre Wunder.“
„ Die Federn, das Fenster … du warst verletzt“, stammelte Monica endlich, als Inga gerade mit der Kanne zwei Tassen und einer Keksdose zu ihr zurückkehrte. Die alte Dame stellte alles auf den nahen Küchentisch, dann neigte sie leicht den Kopf, warf Monica einen weiteren besorgten Blick zu, verlor dabei ihr Lächeln allerdings nicht.
„ Zuerst nimmst du einmal einen großen Schluck und beruhigst dich, dann sehen wir weiter“, sagte sie.
Sie reichte Monica eine große Tasse. Der Tee war dunkel, fast schwarz und er dampfte. Das Aroma drang in Monicas Nase; ein würziger, belebender Duft.
„Eine ganz eigene Zusammenstellung“, frohlockte Inga. „Nur zu. Probiere ihn. Du wirst sehen, er hilft.“
Die Blumenhändlerin behielt recht. Nachdem Monica einige Male vorsichtig gepustet und genippt hatte, wurde ihr Mundraum von einer Welle wohltuenden Geschmacks erfasst.
Eigentlich mochte sie Tee nicht besonders. Er erinnerte sie an Krankheit und war, seit sie denken konnte, eher notwendiges Übel als Genussmittel gewesen. Inga Heemsteddes Tee allerdings schmeckte köstlich. Sie konnte sich nicht entsinnen, je etwas Besseres getrunken zu haben. Die Wirkung des Getränks tat ihr Übriges. Monica entspannte sich zusehends. Die schrecklichen Bilder vor ihrem inneren Auge folgten ihrer Verwirrung und der Angst, die sie zweifellos verspürt hatte, in die hinteren Ecken ihres Bewusstseins. Dort versteckten sie sich und schienen eine Minute darauf ganz verschwunden zu sein.
„Was ist da drin?“
„Oh, es ist ein uraltes Hausrezept. Keine Angst. Eigentlich wird es mit einem Schuss Scotch verfeinert, aber der ist leider in der letzten Nacht zu Bruch gegangen.“
„Wieso, was ist hier passiert? Und vorhin?“ Monica hielt inne, dann sprudelten plötzlich unkontrolliert weitere Fragen aus ihr heraus. „Wie lange war ich ohnmächtig? Und ist die Polizei schon informiert? Ist Harry frei? Lebt er? Wie spät ist es? Was ist mit mir geschehen? Wie …“
Inga hob Einhalt gebietend beide Hände.
„Das sind eine ganze Reihe Fragen, meine Liebe“, lachte sie. Ihre Stimme klang freundlich, gleichwohl konnte das nicht verbergen, dass Inga hinter der zuversichtlichen und freundlichen Fassade mit irgendwelchen Sorgen haderte.
„Ich weiß nicht, was mit Harry geschehen ist“, gab sie dann zu. „Es ging alles so schnell in der letzten Nacht. Ich konnte nichts tun.“
„Um Himmels willen, was ist denn passiert?“
Monica starrte Inga an. Und das erste Mal , seit Monica das Bewusstsein zurückerlangt hatte, verlor sich das Lächeln auf Inga Heemsteddes Lippen, um einem zutiefst betrüblichen Gesichtsausdruck zu weichen. Die alte Frau wandte sich von ihr ab und schaute zur Uhr über der Hintertür, als wollte sie sich vergewissern, dass die Nacht tatsächlich vorbei war. Sie war es. Die Zeiger liefen auf die sechste Stunde des Tages zu, auch wenn der Blick nach draußen ins düstere Zwielicht etwas anderes glauben machen konnte.
Einen dermaßen dunklen Morgen erlebte man sonst nur im Winter. Es war ein gar ungewöhnliches Phänomen, um das sich weder Inga noch Monica in dieser Sekunde scherten.
Ingas Blick löste sich vom Ziffernblatt und wanderte zu Monica. Unvermittelt ergriff die alte Frau ihre Hände.
„Es ist eine lange Geschichte, meine Liebe. Und ich weiß leider nicht, wie viel Zeit uns bleibt. Du bist … Wir alle sind in großer Gefahr. In dieser Nacht ist etwas in diese Welt gekommen, das niemals hätte zurückkehren sollen.“
Inga klang mit einem Mal nur noch wenig warmherzig und freundlich, stattdessen hatte sich ein unheilvoller, rauer Klang in ihre Stimme gemischt. Sie wirkte jäh wie eine verwirrte, boshafte alte Dame, die Tage lang am Fenster hockte und über die Schlechtigkeit der Welt grübelte. Monica schluckte. Sie hatte in den letzten Stunden eine Menge durchgemacht.
Wie schlimm konnte es also werden?
Viel schlimmer jedenfalls nicht , entschied sie und sah Inga forsch an.
„Hat es etwas mit diesen Vögeln zu tun? Mit den Federn und den Schnäbeln und den Klauen?“, fragte sie tapfer. Inga nickte und stri ch behutsam über Monicas Finger. Dann begann sie, Monica die Geschichte in der kürzest möglichen Fassung zu erzählen.
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