Mogelpackung: Roman
Nun hat er sogar öffentlich einen meiner Kollegen obszön beschimpft! Wir können Tims Ausfälle nicht länger dulden. Es wird Konsequenzen geben …« Helena unterbrach ihre Anklage irritiert. Der Mann vor ihr sah weder zerknirscht noch wütend aus, nicht annähernd so wie jemand, dessen Kind gerade offiziell als Totalversager abgekanzelt wird. Er sah ihr versunken in die Augen, als säßen sie bei Vollmond am Palmenstrand.
»Herr Fried, geht es Ihnen nicht gut?«
Fredo lächelte träumerisch. »Ihre Augen sehen so wach aus, so konzentriert lebendig und funkelgrün. Zusammen mit dem dunklen Haar wunderschön. Ihr Mund …«
»Sind Sie irre?«, fuhr ihm Helena ins Wort, ziemlich fassungslos. »Oder ist das eine plumpe Anmache?«
»Weder noch.« Fredo ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Es ist einfach und schlicht die Wahrheit. Können Sie die Wahrheit nicht vertragen?«
Helena Anatol erhob sich von ihrem Stuhl. »Herr Fried, ich schlage vor, wir beenden das Gespräch! Sie sind anscheinend ebenso wenig zugänglich wie Tim.«
»Bitte, Frau Anatol.« Fredo blieb freundlich lächelnd sitzen. »Wir reden immer noch über Tim. Sie werden gleich verstehen, wie ich das meine. Geben Sie mir ein paar Minuten. Sie haben doch ohnehin gerade eine Freistunde.«
Helena atmete tief durch und nahm wieder Platz, blieb aber auf der Hut. Wenn der gleich ein Beil aus seiner Tüte zieht, wundert mich das auch nicht mehr, dachte sie. Immer ich. Immer die Psychos.
»Ich war eben bloß ein Spiegel«, nahm Fredo seinen Faden wieder auf. »Ich habe nur das gesagt, was Sie sehen, wenn Sie in einen Spiegel schauen. Sie sind eine attraktive Frau, und das wird Ihnen selbst nicht ganz entgangen sein.«
»Worauf wollen Sie hinaus, Herr Fried? Was wird das hier?« Die Lehrerin verlor schon wieder die Geduld.
Fredo hob beschwichtigend die Hand. »Kann man davon ausgehen, dass Sie Ihr Aussehen selbst zumindest ganz okay finden? Bitte ganz ehrlich antworten, Frau Anatol. Nicken oder Kopfschütteln genügt.«
Helena zögerte kurz, dann nickte sie ergeben.
Fredo erwiderte das Nicken zufrieden. »Bestimmt gibt es aber irgendetwas an Ihrem Aussehen, mit dem Sie hadern. Ich will gar nicht wissen, was das ist. Und« – er riskierte einmal mehr ein Augenzwinkern – »ich verrate auch nicht, ob mir überhaupt ein Makel an Ihnen auffällt. Jedenfalls haben Sie längst gelernt, damit zu leben.«
»So geht das den meisten. Und?«
»Genau. So geht es den meisten. Die meisten erinnern sich auch gut daran, dass es ihnen als Teenager besonders schwergefallen ist, ihr eigenes Aussehen zu akzeptieren. Große Ohren, dicke Bäuche oder dünne Haare geraten da schnell zum Weltuntergang. Sich mit den Unzulänglichkeiten des eigenen Körpers zu arrangieren gehört zu den größten Herausforderungen der Jugendzeit – meinen Sie nicht auch?«
Ich rede wie ein Erziehungsratgeber, dachte Fredo, aber Helena Anatol hörte endlich zu. Sie reagierte sogar auf die letzte Frage mit bestätigendem Nicken. Und deshalb kam Fredo jetzt zur Sache.
»Wenn dann ein Lehrer wie Ihr Kollege Köhler daherkommt und einen vierzehnjährigen Jungen wie Tim vor versammelter Klasse mit der Bemerkung lächerlich macht, sein Penis sei zu kurz und er würde deshalb nie eine Frau abkriegen – dann ist das nicht als pädagogische Glanzleistung zu bewerten. Gelinde ausgedrückt.«
Die Lehrerin starrte ihn ungläubig an. »Das hat Herr Köhler gesagt?«
Fredo deutete ein schwaches Nicken an. »Sexualkundeunterricht der besonderen Art. Es ist natürlich nicht in Ordnung, dass Tim sich bei seinem Lehrer daraufhin mit einem derben Schimpfwort revanchiert hat. Aber mal ehrlich – wie souverän hätten Sie mit vierzehn Jahren auf so etwas reagiert?«
»Das … das tut mir leid für Tim.« Die Lehrerin wirkte sichtlich aus dem Konzept gebracht. »Darüber wird zu reden sein. Mit Herrn Köhler, vielleicht auch mit der Direktion …«
Mission erfüllt, frohlockte Fredo. Jetzt gar nicht mehr auf Tims Aggressivität oder aufs Schuleschwänzen eingehen, dann ist sie beschäftigt, und es ist erst mal Zeit gewonnen.
»Ich wusste, dass Sie Verständnis für Tim haben würden, vielen Dank!« Fredo langte in seine abgestellte Tüte, zog eine Flasche heraus und stellte sie vor Helena auf den Tisch. »Und bitte entschuldigen Sie den kleinen Zusammenstoß im Supermarkt. Dieser Wein wird Ihnen hoffentlich schmecken. Ein Luberon.«
»Das ist nett … Aber ich denke, vom Vater eines
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