Mogelpackung: Roman
zurück und drückten sich mit weitem Sicherheitsabstand um Patrik herum. An einem offenen Fenster direkt über dem Nebeneingang erkannte Tim seinen Biologielehrer Köhler, der die Szene kopfschüttelnd beobachtete.
Pat, der Fürst der Finsternis. Da hatte Onkel Fredo ein griffiges Bild formuliert, fand Tim. Grinsend steuerte er den Haupteingang an. Etwas abseits davon stand seine Schwester, mit dem Rücken zu ihm. Alleine, was ungewöhnlich war. Normalerweise sah er Karla in der Schule, wenn überhaupt, immer nur inmitten einer Traube palavernder Mädchen, die, was immer sie zu besprechen hatten, dies mit maximalem Aufwand an Gestikulation und Lautstärke erledigten. Und so interessant einige dieser Mädchen auch aussahen – Tim schlug stets einen Bogen um sie. Das war nicht seine Liga. Und Karla fand ihn sowieso bloß peinlich, das gab sie ihm ja oft genug zu verstehen. Zu Hause hatten sie nichts miteinander zu tun, in der Schule deshalb konsequenterweise auch nicht. Eigentlich blöd, dachte Tim, da hat man eine Schwester, sogar in derselben Schule, und ist trotzdem alleine. Im Vorbeigehen sah er noch einmal zu Karla hinüber: Ihr Rücken zuckte so merkwürdig – weinte sie etwa? Für einen Moment erwog Tim, zu ihr zu gehen und sie anzusprechen. Aber dann dachte er an die dummen Sprüche, die von seiner Schwester zu erwarten waren, weil natürlich gar nichts mit ihr los war und sie bloß die letzten Reste eines albernen Lachkrampfs ausgackerte, den sie sich während der Pause geholt hatte. Dumme Gans.
Und er ging an Karla vorbei, hinein ins Schulgebäude.
Karla riskierte einen vorsichtigen Blick zurück über die Schulter: War Tim weg? War er, ebenso wie alle aus ihrer Klasse. Zusammen mit den letzten Nachzüglern schleuste sie sich durchs Entree in die Aula und weiter durch den langen Flur bis in den Kunstraum, wo sie sich in die hinterste Ecke an einen Einzeltisch verkrümelte. Zum Glück für sie hieß das Thema der nächsten Wochen »Videokunst«. Als Einstimmung führte die Kunstlehrerin die ganze Stunde lang rasant geschnittene Clips auf einem aus dem Medienraum entliehenen Großbildmonitor vor. Da hatten alle genug Ablenkung von der eigentlichen Sensation des Tages.
Alle hatten sie in der Pause links liegenlassen. Dabei waren die, die Karla einfach ignorierten, wohl noch die Harmlosesten. Andere versuchten, sie mehr oder weniger offen zu provozieren – durch spitze Bemerkungen, anzügliche Gesten und andere Gemeinheiten. Karla hatte es den ganzen Vormittag über ertragen, aber als eben in der großen Pause Carina Wähling, dieser fette Bauerntrampel, einen ätzenden Spruch über »Lügenbaronin Karla von Frigid« abgelassen hatte, war es um ihre Fassung geschehen gewesen. Gar nicht mal, weil sie dieser spezielle Spruch so verletzte. Die schiere Menge der ihr entgegengebrachten Verachtung erdrückte sie einfach. Wenigstens war keine der Dumpfkühe hinter ihr hergekommen, um sie weinen zu sehen. Karla hatte sich für den Rest der Pause verkrochen und sich noch nie in ihrem Leben so einsam gefühlt wie hier auf dem altvertrauten Schulhof. Und dann wäre sie beinahe noch beim Hineingehen nach der Pause ihrem Bruder über den Weg gelaufen. Zum Glück hatte sie Tim zuerst entdeckt, wie er in seinem spackigen T-Shirt und mit seinem ungelenken Gang über den Hof schlurfte – und sich rechtzeitig abgewendet. Das hätte noch gefehlt, dass Tim ihre Tränen gesehen hätte! Meistens checkte ihr kleiner doofer Bruder ja überhaupt nichts. Aber wenn, dann bohrte er so lange herum, bis man völlig die Nerven verlor. Eigentlich schade, dachte Karla, da hat man einen Bruder, sogar in derselben Schule, und ist trotzdem alleine. Nutzloser Bengel. Ein älterer Bruder, ein Beschützer, ja, das wäre was. Wenn Tim so jemand wäre wie Marcel: Schulsprecher, Oberstufe, breite Schultern, schmale Hüften, ein Gesicht wie Robert Pattinson – ja, dann …
Marcel kannst du ein für alle Mal vergessen, sagte sich Karla und unterdrückte ein Schluchzen. Dieser Traum ist sowieso bloß ein Traum, und wenn Marcel diese Geschichten über mich hört – falls er Mittelstufengeschwätz beachtet und falls er überhaupt weiß, wer ich bin –, dann redet er niemals mit mir. Was, genau genommen, keinen großen Unterschied machte – denn bisher hatte er das auch noch nie getan. Obwohl, einmal auf der großen Treppe zwischen der Oberstufenetage und den Fachräumen, da waren sie sich vor ein paar Wochen begegnet. Allein. Karla war
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