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Mohr im Hemd oder wie ich auszog die Welt zu retten

Mohr im Hemd oder wie ich auszog die Welt zu retten

Titel: Mohr im Hemd oder wie ich auszog die Welt zu retten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Horvath
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anschließendes Gerülpse ruft Entzückensbekundungen bei Oma und Nicoleta hervor, ich rülpse auch, was mir aber nur einen strafenden Blick von Nino einträgt. Als Ilarion später erneut zu weinen beginnt, singt Nino ihm zwei oder drei Wiegenlieder ins Ohr. Die hat mir meine Mutter auch vorgesungen, als ich klein war, erklärt sie, und jeder staunt, wie viel Sanftheit und Liebe in der wilden Ninotschka stecken.
    Alle wirken entspannt und glücklich, und nichts, gar nichts lässt in diesen Momenten darauf schließen, dass diese Idylle zeitlich oder örtlich begrenzt sein, dass es irgendeine äußere Bedrohung geben könnte. Doch im Gegensatz zu meinen Genossinnen und Genossen halte ich die Biedermeierei nicht lange aus, die Scheuklappen, sie drücken auf Augen und Schläfen, die Realität duldet keine allzu lange Verweigerung. Nino zum Beispiel: Ich weiß, dass Ilarion, obwohl er sich bei ihr wohlzufühlen scheint, nicht wirklich ihr Sohn sein kann. Woher hast du das Kind, frage ich sie an einem dieser Abende. Was meinst du? Du weißt, was ich meine, du hast doch erst Ende November Termin. Rotkäppchen tut, als würde sie mich noch immer nicht verstehen. Ich hatte Ende November Termin, ja, Ilarion ist aber schon Ende Oktober zur Welt gekommen. Willst du mich auf den Arm nehmen? Es ist jetzt Ende Juli, du müsstest also ungefähr im fünften Monat schwanger sein. Bist du völlig übergeschnappt, fährt sie mich an, schau hinaus, die Bäume sind alle kahl! Die Bäume waren das ganze Jahr über kahl, meine liebe Nino, das weißt du genau. Sie tippt sich an die Stirn. Du warst ein paar Monate im Irrenhaus, schreit sie mich an, aber das war offenbar noch nicht lange genug! Sie zückt ihr Mobiltelefon. Da, sagt sie und deutet auf das Display, heute ist der 10. Dezember. Ich schüttle traurig den Kopf, sogar das Telefon hat sie also manipuliert!
    Doch nicht nur Ninos Gesundheitszustand ist besorgniserregend, auch einige andere hier im Haus tun so, als sei ich nicht drei Wochen, sondern mehrere Monate fort gewesen. Und als ich nach längerer Zeit wieder einmal in die Innenstadt komme, merke ich erst das volle Ausmaß der fortschreitenden Verrückung, die sich nicht mehr nur auf unser Haus beschränkt: In den Straßen hängt Weihnachtsbeleuchtung, die Schaufenster sind weihnachtlich geschmückt, in den Kaufhäusern erklingt Weihnachtsmusik, und auch im Fernsehen, so muss ich feststellen, läuft ein Weihnachtsfilm nach dem anderen!
    Ein paar Tage noch und ich bin mit meinen Vorbereitungen fertig. Noch einmal appelliere ich an meine Genossinnen und Genossen: Wir können nicht länger warten, wir müssen uns wehren, doch die Antwort ist Schweigen, das Schweigen der Lämmer auf dem Weg zur Schlachtbank. Nun, dann werde ich eben alleine losschlagen, werde am nächsten Tag den Abschiebeminister auf seinem Weg zur sogenannten Arbeit entführen, ihn sicher verwahren, am Abend das Fernsehstudio stürmen und die Bedingungen für die Freilassung diktieren sowie den Streik für die kommende Woche organisieren.
    Und dann ist plötzlich die Schwarze Köchin wieder da. Buschtrommeln verbreiten die Nachricht im Haus: Habt ihr schon gehört, Pitra ist zurück, die anderen, sie werden abgeschoben, aber Pitra kommt zurück, und der Geruch von Bohnen und gebratenem Bauchfleisch zieht alsbald durch alle Stockwerke. Es dauert nicht lange, und alle versammeln sich in ihrem Zimmer im zweiten Stock, sie wird freudig begrüßt, doch Überschwang ist Pitras Sache nicht, sie tut, als wäre sie nie fort gewesen. Alle reden durcheinander: Wo bist du gewesen, Wir haben uns Sorgen um dich gemacht, Gerade jetzt kommst du zurück, wo man uns alle fortschickt, Pitra aber lächelt schweigend und findet es nicht der Mühe wert, die Fragen zu beantworten. Esst nur, sagt sie und deutet zur Kochnische, es ist genug für alle da.
    Heute werde ich euch eine Geschichte erzählen, kündigt Pitra an, nachdem sich alle satt gegessen haben. Überraschte Gesichter wenden sich der Götterköchin zu, Pitra hat noch nie eine Geschichte erzählt. Sie stellt rasch noch ein paar Figuren auf der Kommode um, dann beginnt sie. Ich möchte euch von einem Engel erzählen, einem Engel, der auf die Erde geschickt wurde, um dort nach dem Rechten zu sehen und anschließend den Göttern Bericht zu erstatten. Der Engel war noch jung, es war sein erster Auftrag, und er war bemüht, alles richtig zu machen. Er wollte nichts übersehen, nichts überhören, er schrieb alles auf, um nur ja

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