Mohr im Hemd oder wie ich auszog die Welt zu retten
bald reich sein, dachten viele. Man unterschrieb Verträge, die man nicht wirklich verstand, und mehr und mehr Land wechselte den Besitzer. Wälder wurden gerodet, Straßen angelegt, Bohrtürme aufgestellt, Felder wichen Öllagern, aus einem Mangrovensumpf wurde ein Industriegebiet. Mehr und mehr Öl drang bald aus schlecht gewarteten Tanks und Pipelines in die Flüsse und vergiftete Brunnen, das Delta wurde zu einer stinkenden Kloake, in der die Fische keine Nahrung fanden, man hatte keine Felder mehr, die Gelder vom Verkauf der Ländereien waren aufgebraucht, die versprochene Beteiligung an den Gewinnen blieb aus. Man bildete Komitees, um mit den Ölfirmen zu verhandeln, wenn schon keine Gewinnbeteiligung, dann wollte man wenigstens Arbeit bekommen, doch die Verhandlungen verliefen ohne Erfolg. Die Komitees trafen sich, um über weitere Schritte zu beraten, man schrieb Briefe an die Ölfirmen und an die Regierung, man organisierte Demonstrationen, die von der Polizei aufgelöst wurden, dabei gab es Verletzte, bei weiteren Protestmärschen auch Tote.
Mehr und mehr Menschen starben an Krebs und anderen zuvor unbekannten Krankheiten, mehr und mehr Leute mussten hungern, einige verließen das Dorf, um anderswo ihr Glück zu suchen. Manche Männer fuhren mit ihren Fischerbooten weit in die Sumpfgebiete hinein, dorthin, wo das Wasser noch nicht vergiftet war, und gerieten dabei in Konflikt mit anderen Gemeinden. Überall entstanden bewaffnete Banden, und Gewalt gehörte bald zum Alltag im Delta. Manche Banden entführten Mitabeiter der Ölfirmen und erpressten Lösegeld oder Gewinnbeteiligungen, andere spezialisierten sich auf das Anzapfen der Pipelines und den Verkauf des illegal gewonnenen Rohöls. Im winzigen Makadu entstanden zwei rivalisierende Banden, und so kam es auch innerhalb des Dorfes zu gewalttätigen Auseinandersetzungen.
Der Artikel geht weiter und berichtet über die Korruption von Regierungsstellen und Polizei, und während Herbert Leitner mit ungebrochenem Enthusiasmus auf zehn abwesende Jugendliche einspricht, verabschiedet sich auch der elfte geistig, denn meine Gedanken schweifen ab und wenden sich Oma zu. Mit einem Mal sehe ich sie ganz deutlich vor der Kulisse der Mangrovensümpfe des Niger-Deltas stehen, ich sehe sie und ihre Eltern mutig agieren im Kampf gegen Ölgesellschaften, bewaffnete Banden und korrupte Beamte, ich sehe, wie ihr Vater bei diesem Kampf ums Leben kommt, wie ihre Mutter alles daransetzt, um wenigstens Oma das Überleben zu sichern. Was ich allerdings noch nicht durchschaue: wie Tony dabei ins Spiel kommen könnte. Die erste Begegnung zwischen ihm und Oma, bei der sie sich völlig verschreckt in Zakias Arme flüchtete, will mir nämlich nicht und nicht aus dem Kopf. Ich weiß, dass Tony Philemon Azibaola vor zehn Jahren aus Nigeria flüchten musste, weil er genauso wie Oma und ihre Familie in Konflikt mit dem Staat und den ausländischen Ölgesellschaften geraten ist – kann es sein, dass dieser Konflikt auch zu Auseinandersetzungen mit anderen ethnischen Gruppen wie den Ijaw geführt hat? Kann es sein, dass sich Tony und Oma – die damals noch ein kleines Kind war – im Zuge dieser Auseinandersetzungen tatsächlich begegnet sind? Oder ist es nur eine zufällige Ähnlichkeit zwischen Tony und irgendjemand anderem, der Oma oder ihrer Familie Leid zugefügt hat?
Oma geht ihm jedenfalls nach wie vor aus dem Weg. Zwar bricht sie nicht mehr in Tränen aus, wenn sie Tony begegnet, doch ihr Blick bekommt jedes Mal etwas Wachsames, Jederzeit-zur-Flucht-Bereites, einer Gazelle gleich, die eines Löwen beim Festschmaus ansichtig wird, zwar hat er sich gerade satt gefressen, aber möglicherweise gelüstet es ihn ja doch noch nach einem Dessert.
Wie dem auch sei, Oma ist in jedem Fall schwer traumatisiert, so viel ist klar, das kann Dr. Idaulambo selbst aus hundert Metern Entfernung bei dichtem Nebel feststellen, das arme Kind hatte letzte Woche seine erste Sitzung in der Gummizelle. Welcome to the club, kann man da nur sagen.
Gemeinsam mit Nino verlasse ich den Kursraum, auf dem Gang läuft uns Lukas Neuner über den Weg. Na, wie geht’s Mira, frage ich ihn. Gut geht’s ihr, antwortet er zögernd, ein verdutztes Lächeln auf dem Dutzendgesicht. Was will er von mir, scheint dieses Lächeln zu fragen. Nun, lass es mich klar und deutlich sagen, mein allerwertester Freund: Er will Rache, das will er! Sie ist ja heute sowieso bei euch im Leo, sagt Lukas. Und, wie geht’s eurer
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